darzuthun. Es gibt Krankheiten des Gehirns, z. B. Erschütterungen, Verletzungen u. s. w., welche dasselbe in seiner Function derart beeinträchtigen, daß das Selbst- bewußtsein vollkommen aufgehoben wird und die Kranken von ihrem körperlichen oder geistigen Zustande nicht die geringste Empfindung, Vorstellung oder Erinnerung haben. Solche vollkommen bewußtlose Zustände können unter Umständen sehr lange, selbst Monate hindurch andauern. Kommen solche Kranke zur Genesung, so macht man an ihnen die Erfahrung, daß sie nicht die geringste Ahnung oder Rückerinnerung von dieser ganzen langen Zeit be- sitzen, sondern ihr geistiges Leben wiederum an dem Zeitpunkt fortsetzen, an welchem ihnen zuerst das Bewußt- sein entschwunden ist; diese ganze Zeit war für sie eine Zeit tiefen Schlafes oder geistigen Todes; sie sind ge- wissermaßen gestorben und zum zweitenmal geboren. Tritt nach einer solchen Periode anstatt der Genesung der wirkliche Tod ein, so ist der Moment dieser Kata- strophe ganz irrelevant für das betreffende Jndividuum; der geistige Tod setzte sich in den körperlichen fort, ohne daß ihm dieser Moment zum Bewußtsein kam; es war als Person, als geistig belebtes Wesen bereits früher gestorben, d. h. in jenem Moment, als die Krankheit das Selbstbewußtsein schwinden machte. Es möchte den- jenigen, welche an eine persönliche Unsterblichkeit glau- ben, sehr schwer, ja unmöglich werden, den Zusammen-
darzuthun. Es gibt Krankheiten des Gehirns, z. B. Erſchütterungen, Verletzungen u. ſ. w., welche daſſelbe in ſeiner Function derart beeinträchtigen, daß das Selbſt- bewußtſein vollkommen aufgehoben wird und die Kranken von ihrem körperlichen oder geiſtigen Zuſtande nicht die geringſte Empfindung, Vorſtellung oder Erinnerung haben. Solche vollkommen bewußtloſe Zuſtände können unter Umſtänden ſehr lange, ſelbſt Monate hindurch andauern. Kommen ſolche Kranke zur Geneſung, ſo macht man an ihnen die Erfahrung, daß ſie nicht die geringſte Ahnung oder Rückerinnerung von dieſer ganzen langen Zeit be- ſitzen, ſondern ihr geiſtiges Leben wiederum an dem Zeitpunkt fortſetzen, an welchem ihnen zuerſt das Bewußt- ſein entſchwunden iſt; dieſe ganze Zeit war für ſie eine Zeit tiefen Schlafes oder geiſtigen Todes; ſie ſind ge- wiſſermaßen geſtorben und zum zweitenmal geboren. Tritt nach einer ſolchen Periode anſtatt der Geneſung der wirkliche Tod ein, ſo iſt der Moment dieſer Kata- ſtrophe ganz irrelevant für das betreffende Jndividuum; der geiſtige Tod ſetzte ſich in den körperlichen fort, ohne daß ihm dieſer Moment zum Bewußtſein kam; es war als Perſon, als geiſtig belebtes Weſen bereits früher geſtorben, d. h. in jenem Moment, als die Krankheit das Selbſtbewußtſein ſchwinden machte. Es möchte den- jenigen, welche an eine perſönliche Unſterblichkeit glau- ben, ſehr ſchwer, ja unmöglich werden, den Zuſammen-
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darzuthun. Es gibt Krankheiten des Gehirns, z. B.
Erſchütterungen, Verletzungen u. ſ. w., welche daſſelbe
in ſeiner Function derart beeinträchtigen, daß das Selbſt-
bewußtſein vollkommen aufgehoben wird und die Kranken
von ihrem körperlichen oder geiſtigen Zuſtande nicht die
geringſte Empfindung, Vorſtellung oder Erinnerung haben.
Solche vollkommen bewußtloſe Zuſtände können unter
Umſtänden ſehr lange, ſelbſt Monate hindurch andauern.
Kommen ſolche Kranke zur Geneſung, ſo macht man an
ihnen die Erfahrung, daß ſie nicht die geringſte Ahnung
oder Rückerinnerung von dieſer ganzen langen Zeit be-
ſitzen, ſondern ihr geiſtiges Leben wiederum an dem
Zeitpunkt fortſetzen, an welchem ihnen zuerſt das Bewußt-
ſein entſchwunden iſt; dieſe ganze Zeit war für ſie eine
Zeit tiefen Schlafes oder geiſtigen Todes; ſie ſind ge-
wiſſermaßen geſtorben und zum zweitenmal geboren.
Tritt nach einer ſolchen Periode anſtatt der Geneſung
der wirkliche Tod ein, ſo iſt der Moment dieſer Kata-
ſtrophe ganz irrelevant für das betreffende Jndividuum;
der geiſtige Tod ſetzte ſich in den körperlichen fort, ohne
daß ihm dieſer Moment zum Bewußtſein kam; es war
als Perſon, als geiſtig belebtes Weſen bereits früher
geſtorben, d. h. in jenem Moment, als die Krankheit
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ben, ſehr ſchwer, ja unmöglich werden, den Zuſammen-
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/220>, abgerufen am 24.11.2024.
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