Theil Unbewußte seines geistigen Wachsthums verleitet nachher den im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte Befindlichen, seinen Ursprung zu vergessen, seine Mutter, die Welt, zu verachten und sich als den unmittelbaren Sohn des Himmels anzusehen, dem die Erkenntniß als ein geistiges Geschenk von Oben herab verliehen worden ist. Aber ein unbefangener Blick auf seine Vergangen- heit, sowie auf jene Unglücklichen, denen die Natur einen oder mehrere ihrer Sinne geraubt hat, kann ihn eines Andern belehren. Was weiß ein Blindgeborener von den Farben, von dem Licht, von dem ganzen glänzenden Schein der Welt? für ihn ist Nacht und Dunkel der normale Zustand des Daseins, ähnlich jenen niedersten Thieren, welche der Augen entbehren. Was weiß ein Taubgeborener von den Tönen, von Sprachen, Melodieen, Musik? Für ihn ist die Welt ewig still, und er steht in diesem Punkt auf gleicher geistiger Stufe mit der Stu- benfliege, welche des Gehörorgans entbehrt und von keinem Lärm erschreckt wird. Taubstumme sind arme unglückliche Geschöpfe, welche nur mit äußerster Mühe und Langsamkeit zu einem einigermaßen menschenähnlichen geistigen Zustand erzogen werden können. Hirzel erzählt von dem 18jährigen Taubstummen Meystre, der sehr große Anlagen hatte, daß es unendliche Mühe kostete, ihm den Gebrauch der Sprache bemerklich zu machen. Meystre lernte zuerst das Wort Ami aussprechen,
Theil Unbewußte ſeines geiſtigen Wachsthums verleitet nachher den im vollen Beſitz ſeiner geiſtigen Kräfte Befindlichen, ſeinen Urſprung zu vergeſſen, ſeine Mutter, die Welt, zu verachten und ſich als den unmittelbaren Sohn des Himmels anzuſehen, dem die Erkenntniß als ein geiſtiges Geſchenk von Oben herab verliehen worden iſt. Aber ein unbefangener Blick auf ſeine Vergangen- heit, ſowie auf jene Unglücklichen, denen die Natur einen oder mehrere ihrer Sinne geraubt hat, kann ihn eines Andern belehren. Was weiß ein Blindgeborener von den Farben, von dem Licht, von dem ganzen glänzenden Schein der Welt? für ihn iſt Nacht und Dunkel der normale Zuſtand des Daſeins, ähnlich jenen niederſten Thieren, welche der Augen entbehren. Was weiß ein Taubgeborener von den Tönen, von Sprachen, Melodieen, Muſik? Für ihn iſt die Welt ewig ſtill, und er ſteht in dieſem Punkt auf gleicher geiſtiger Stufe mit der Stu- benfliege, welche des Gehörorgans entbehrt und von keinem Lärm erſchreckt wird. Taubſtumme ſind arme unglückliche Geſchöpfe, welche nur mit äußerſter Mühe und Langſamkeit zu einem einigermaßen menſchenähnlichen geiſtigen Zuſtand erzogen werden können. Hirzel erzählt von dem 18jährigen Taubſtummen Meyſtre, der ſehr große Anlagen hatte, daß es unendliche Mühe koſtete, ihm den Gebrauch der Sprache bemerklich zu machen. Meyſtre lernte zuerſt das Wort Ami ausſprechen,
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Theil Unbewußte ſeines geiſtigen Wachsthums verleitet
nachher den im vollen Beſitz ſeiner geiſtigen Kräfte
Befindlichen, ſeinen Urſprung zu vergeſſen, ſeine Mutter,
die Welt, zu verachten und ſich als den unmittelbaren
Sohn des Himmels anzuſehen, dem die Erkenntniß als
ein geiſtiges Geſchenk von Oben herab verliehen worden
iſt. Aber ein unbefangener Blick auf ſeine Vergangen-
heit, ſowie auf jene Unglücklichen, denen die Natur einen
oder mehrere ihrer Sinne geraubt hat, kann ihn eines
Andern belehren. Was weiß ein Blindgeborener von
den Farben, von dem Licht, von dem ganzen glänzenden
Schein der Welt? für ihn iſt Nacht und Dunkel der
normale Zuſtand des Daſeins, ähnlich jenen niederſten
Thieren, welche der Augen entbehren. Was weiß ein
Taubgeborener von den Tönen, von Sprachen, Melodieen,
Muſik? Für ihn iſt die Welt ewig ſtill, und er ſteht in
dieſem Punkt auf gleicher geiſtiger Stufe mit der Stu-
benfliege, welche des Gehörorgans entbehrt und von
keinem Lärm erſchreckt wird. Taubſtumme ſind arme
unglückliche Geſchöpfe, welche nur mit äußerſter Mühe
und Langſamkeit zu einem einigermaßen menſchenähnlichen
geiſtigen Zuſtand erzogen werden können. Hirzel erzählt
von dem 18jährigen Taubſtummen Meyſtre, der ſehr
große Anlagen hatte, daß es unendliche Mühe koſtete,
ihm den Gebrauch der Sprache bemerklich zu machen.
Meyſtre lernte zuerſt das Wort Ami ausſprechen,
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/182>, abgerufen am 22.11.2024.
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