Jrgend welche Kenntniß, welche über die uns umgebende und unsern Sinnen zugängliche Welt hinausreichte, irgend welches übernatürliche, absolute Wissen ist unmöglich und nicht vorhanden. Es ist die alltäglichste Erfahrung, daß der Mensch erst mit der allmähligen Entwicklung seiner Sinne und in dem Maße, als er sich durch dieselben in eine bestimmte Relation zur Außenwelt setzt, geistig zu leben beginnt, und daß die Entwicklung dieses seines geistigen Wesens gleichen Schritt mit der Entwicklung seiner Sinn- und Denkorgane, sowie mit der Zahl und Bedeutung der empfangenen Eindrücke hält. Das neu- geborne Kind denkt so wenig, hat so wenig eine Seele, wie das ungeborne; es ist nach unsrer Ansicht nur kör- perlich lebend, aber geistig todt. Aus einem unschein- baren, kaum mit bewaffnetem Auge zu unterscheidenden Bläschen entwickelt sich der Mensch oder das Thier über- haupt im mütterlichen Körper nach und nach zu Gestalt und Größe. Zu einer gewissen Größe gelangt, kann sich die Frucht im Mutterleibe bewegen, aber diese Bewe- gungen sind keine durch seelische Aktion veranlaßten, sondern unwillkührliche; die Frucht denkt, empfindet nichts, weiß nichts von sich selbst. Keine Spur einer Erinnerung dieses Zustandes, in welchem die Sinne un- thätig oder unentwickelt sind, begleitet jemals den Men- schen in sein späteres Leben, sowenig wie aus der ersten Zeit seines vom mütterlichen Körper getrennten selbst-
Jrgend welche Kenntniß, welche über die uns umgebende und unſern Sinnen zugängliche Welt hinausreichte, irgend welches übernatürliche, abſolute Wiſſen iſt unmöglich und nicht vorhanden. Es iſt die alltäglichſte Erfahrung, daß der Menſch erſt mit der allmähligen Entwicklung ſeiner Sinne und in dem Maße, als er ſich durch dieſelben in eine beſtimmte Relation zur Außenwelt ſetzt, geiſtig zu leben beginnt, und daß die Entwicklung dieſes ſeines geiſtigen Weſens gleichen Schritt mit der Entwicklung ſeiner Sinn- und Denkorgane, ſowie mit der Zahl und Bedeutung der empfangenen Eindrücke hält. Das neu- geborne Kind denkt ſo wenig, hat ſo wenig eine Seele, wie das ungeborne; es iſt nach unſrer Anſicht nur kör- perlich lebend, aber geiſtig todt. Aus einem unſchein- baren, kaum mit bewaffnetem Auge zu unterſcheidenden Bläschen entwickelt ſich der Menſch oder das Thier über- haupt im mütterlichen Körper nach und nach zu Geſtalt und Größe. Zu einer gewiſſen Größe gelangt, kann ſich die Frucht im Mutterleibe bewegen, aber dieſe Bewe- gungen ſind keine durch ſeeliſche Aktion veranlaßten, ſondern unwillkührliche; die Frucht denkt, empfindet nichts, weiß nichts von ſich ſelbſt. Keine Spur einer Erinnerung dieſes Zuſtandes, in welchem die Sinne un- thätig oder unentwickelt ſind, begleitet jemals den Men- ſchen in ſein ſpäteres Leben, ſowenig wie aus der erſten Zeit ſeines vom mütterlichen Körper getrennten ſelbſt-
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Jrgend welche Kenntniß, welche über die uns umgebende
und unſern Sinnen zugängliche Welt hinausreichte, irgend
welches übernatürliche, abſolute Wiſſen iſt unmöglich und
nicht vorhanden. Es iſt die alltäglichſte Erfahrung, daß
der Menſch erſt mit der allmähligen Entwicklung ſeiner
Sinne und in dem Maße, als er ſich durch dieſelben in
eine beſtimmte Relation zur Außenwelt ſetzt, geiſtig zu
leben beginnt, und daß die Entwicklung dieſes ſeines
geiſtigen Weſens gleichen Schritt mit der Entwicklung
ſeiner Sinn- und Denkorgane, ſowie mit der Zahl und
Bedeutung der empfangenen Eindrücke hält. Das neu-
geborne Kind denkt ſo wenig, hat ſo wenig eine Seele,
wie das ungeborne; es iſt nach unſrer Anſicht nur kör-
perlich lebend, aber geiſtig todt. Aus einem unſchein-
baren, kaum mit bewaffnetem Auge zu unterſcheidenden
Bläschen entwickelt ſich der Menſch oder das Thier über-
haupt im mütterlichen Körper nach und nach zu Geſtalt
und Größe. Zu einer gewiſſen Größe gelangt, kann ſich
die Frucht im Mutterleibe bewegen, aber dieſe Bewe-
gungen ſind keine durch ſeeliſche Aktion veranlaßten,
ſondern unwillkührliche; die Frucht denkt, empfindet
nichts, weiß nichts von ſich ſelbſt. Keine Spur einer
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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