Ein günstiger Markt für freie Arbeit, eine Stätte qualifizierter Produktion zum verkehrsmäßigen Vertrieb über entfernte Konsumtionsgebiete war die antike Großstadt nicht. Was von fabrikähnlicher Industrie vorkommt, be- ruht, wie der landwirtschaftliche Großbetrieb auf Sklaven- arbeit. Unter den Motiven, welche die alten Schriftsteller für den Drang der freien ländlichen Bevölkerung nach den Städten anführen, spielt darum gerade das keine Rolle, welches jetzt das gewöhnliche ist: die Aussicht auf bessere Arbeitslöhne. "Betrachte doch diese Menschenmenge", schreibt Seneca 1) an seine Mutter; "kaum reichen die Häuser der unermeßlichen Stadt für sie aus. Aus Municipien und Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreise sind sie zusammen- geströmt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt, andere der Zwang eines öffentlichen Amtes, andere eine ihnen aufer- legte Gesandtschaft, andere die Schwelgerei, die einen glän- zenden, für die Laster bequemen Tummelplatz sucht, andere das Studium der Wissenschaften, andere die Schauspiele; einige hat die Freundschaft herbeigezogen, andere die Be- triebsamkeit, welche hier ausgedehnte Gelegenheit findet, persönliche Vorzüge zur Geltung zu bringen 2); einige bieten ihre Schönheit feil, andere ihre Beredsamkeit. Da ist keine Art von Menschen, die nicht in der Stadt zusammen-
1)Cons. ad. Helviam, 6.
2)Quosdam industria latam ostendendae virtuti nacta ma- teriam. Es ist das Strebertum gemeint, nicht die "Industrie", wie Pöhlmann a. a. O. S. 17 unbegreiflicher Weise übersetzt.
Ein günſtiger Markt für freie Arbeit, eine Stätte qualifizierter Produktion zum verkehrsmäßigen Vertrieb über entfernte Konſumtionsgebiete war die antike Großſtadt nicht. Was von fabrikähnlicher Induſtrie vorkommt, be- ruht, wie der landwirtſchaftliche Großbetrieb auf Sklaven- arbeit. Unter den Motiven, welche die alten Schriftſteller für den Drang der freien ländlichen Bevölkerung nach den Städten anführen, ſpielt darum gerade das keine Rolle, welches jetzt das gewöhnliche iſt: die Ausſicht auf beſſere Arbeitslöhne. „Betrachte doch dieſe Menſchenmenge“, ſchreibt Seneca 1) an ſeine Mutter; „kaum reichen die Häuſer der unermeßlichen Stadt für ſie aus. Aus Municipien und Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreiſe ſind ſie zuſammen- geſtrömt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt, andere der Zwang eines öffentlichen Amtes, andere eine ihnen aufer- legte Geſandtſchaft, andere die Schwelgerei, die einen glän- zenden, für die Laſter bequemen Tummelplatz ſucht, andere das Studium der Wiſſenſchaften, andere die Schauſpiele; einige hat die Freundſchaft herbeigezogen, andere die Be- triebſamkeit, welche hier ausgedehnte Gelegenheit findet, perſönliche Vorzüge zur Geltung zu bringen 2); einige bieten ihre Schönheit feil, andere ihre Beredſamkeit. Da iſt keine Art von Menſchen, die nicht in der Stadt zuſammen-
1)Cons. ad. Helviam, 6.
2)Quosdam industria latam ostendendae virtuti nacta ma- teriam. Es iſt das Strebertum gemeint, nicht die „Induſtrie“, wie Pöhlmann a. a. O. S. 17 unbegreiflicher Weiſe überſetzt.
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Ein günſtiger Markt für freie Arbeit, eine Stätte
qualifizierter Produktion zum verkehrsmäßigen Vertrieb
über entfernte Konſumtionsgebiete war die antike Großſtadt
nicht. Was von fabrikähnlicher Induſtrie vorkommt, be-
ruht, wie der landwirtſchaftliche Großbetrieb auf Sklaven-
arbeit. Unter den Motiven, welche die alten Schriftſteller
für den Drang der freien ländlichen Bevölkerung nach den
Städten anführen, ſpielt darum gerade das keine Rolle,
welches jetzt das gewöhnliche iſt: die Ausſicht auf beſſere
Arbeitslöhne. „Betrachte doch dieſe Menſchenmenge“, ſchreibt
Seneca 1) an ſeine Mutter; „kaum reichen die Häuſer der
unermeßlichen Stadt für ſie aus. Aus Municipien und
Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreiſe ſind ſie zuſammen-
geſtrömt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt, andere der
Zwang eines öffentlichen Amtes, andere eine ihnen aufer-
legte Geſandtſchaft, andere die Schwelgerei, die einen glän-
zenden, für die Laſter bequemen Tummelplatz ſucht, andere
das Studium der Wiſſenſchaften, andere die Schauſpiele;
einige hat die Freundſchaft herbeigezogen, andere die Be-
triebſamkeit, welche hier ausgedehnte Gelegenheit findet,
perſönliche Vorzüge zur Geltung zu bringen 2); einige bieten
ihre Schönheit feil, andere ihre Beredſamkeit. Da iſt
keine Art von Menſchen, die nicht in der Stadt zuſammen-
1) Cons. ad. Helviam, 6.
2) Quosdam industria latam ostendendae virtuti nacta ma-
teriam. Es iſt das Strebertum gemeint, nicht die „Induſtrie“, wie
Pöhlmann a. a. O. S. 17 unbegreiflicher Weiſe überſetzt.
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/310>, abgerufen am 31.07.2024.
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