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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893.

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Geisteskranken war verhältnismäßig eine weit größere als
heutzutage.

Was die letzteren betrifft, so weiß ich wohl, daß unter
den Statistikern und wohl auch in der Psychiatrie die An-
sicht vorherrscht, die moderne Zeit mit ihrem raschen Ver-
brauch der Lebenskraft, ihrer aufregenden Hast und ihren
schroffen sozialen Gegensätzen sei der Zunahme der Geistes-
kranken
besonders günstig gewesen. Allein wenn man
mit kritischem Sinne die dafür angeführten Zahlen prüft,
so muß man sich sagen, daß der Beweis für diese Behaup-
tung keineswegs erbracht ist. Vielmehr spricht vieles da-
für, daß die steigenden Ergebnisse der Zählungen auf die
wachsende Genauigkeit derselben zurückzuführen sind. Und
wenn man denn einmal in der Aetiologie der Geisteskrank-
heiten physische und psychische Faktoren neben einander
gelten läßt, so überzeugt uns geringes Nachdenken, daß in
beiden Beziehungen das Mittelalter größere Gefahren bot
als die Gegenwart. Die schroffsten Wechselfälle lagen im
Leben der Menschen hart neben einander: Ueberfluß und
Mangel, Völlerei und Darben, Genuß und Entsagung.
Der Anblick blutiger Greuelßenen, Gewaltakte aller Art,
Belagerungen, Hinrichtungen, Bürgerzwiste, Pestzeiten,
Hungersnöte -- all das verbunden mit religiöser Super-
stition und einer grausamen, oft ungerechten Justiz mußte
die Gemüter der Menschen aufs tiefste erschüttern. Das
ruhige Behagen einer in festen Linien sich bewegenden
stetigen Entwicklung war dem Mittelalter fremd.

Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. 15

Geiſteskranken war verhältnismäßig eine weit größere als
heutzutage.

Was die letzteren betrifft, ſo weiß ich wohl, daß unter
den Statiſtikern und wohl auch in der Pſychiatrie die An-
ſicht vorherrſcht, die moderne Zeit mit ihrem raſchen Ver-
brauch der Lebenskraft, ihrer aufregenden Haſt und ihren
ſchroffen ſozialen Gegenſätzen ſei der Zunahme der Geiſtes-
kranken
beſonders günſtig geweſen. Allein wenn man
mit kritiſchem Sinne die dafür angeführten Zahlen prüft,
ſo muß man ſich ſagen, daß der Beweis für dieſe Behaup-
tung keineswegs erbracht iſt. Vielmehr ſpricht vieles da-
für, daß die ſteigenden Ergebniſſe der Zählungen auf die
wachſende Genauigkeit derſelben zurückzuführen ſind. Und
wenn man denn einmal in der Aetiologie der Geiſteskrank-
heiten phyſiſche und pſychiſche Faktoren neben einander
gelten läßt, ſo überzeugt uns geringes Nachdenken, daß in
beiden Beziehungen das Mittelalter größere Gefahren bot
als die Gegenwart. Die ſchroffſten Wechſelfälle lagen im
Leben der Menſchen hart neben einander: Ueberfluß und
Mangel, Völlerei und Darben, Genuß und Entſagung.
Der Anblick blutiger Greuelſzenen, Gewaltakte aller Art,
Belagerungen, Hinrichtungen, Bürgerzwiſte, Peſtzeiten,
Hungersnöte — all das verbunden mit religiöſer Super-
ſtition und einer grauſamen, oft ungerechten Juſtiz mußte
die Gemüter der Menſchen aufs tiefſte erſchüttern. Das
ruhige Behagen einer in feſten Linien ſich bewegenden
ſtetigen Entwicklung war dem Mittelalter fremd.

Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 15
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[225/0247] Geiſteskranken war verhältnismäßig eine weit größere als heutzutage. Was die letzteren betrifft, ſo weiß ich wohl, daß unter den Statiſtikern und wohl auch in der Pſychiatrie die An- ſicht vorherrſcht, die moderne Zeit mit ihrem raſchen Ver- brauch der Lebenskraft, ihrer aufregenden Haſt und ihren ſchroffen ſozialen Gegenſätzen ſei der Zunahme der Geiſtes- kranken beſonders günſtig geweſen. Allein wenn man mit kritiſchem Sinne die dafür angeführten Zahlen prüft, ſo muß man ſich ſagen, daß der Beweis für dieſe Behaup- tung keineswegs erbracht iſt. Vielmehr ſpricht vieles da- für, daß die ſteigenden Ergebniſſe der Zählungen auf die wachſende Genauigkeit derſelben zurückzuführen ſind. Und wenn man denn einmal in der Aetiologie der Geiſteskrank- heiten phyſiſche und pſychiſche Faktoren neben einander gelten läßt, ſo überzeugt uns geringes Nachdenken, daß in beiden Beziehungen das Mittelalter größere Gefahren bot als die Gegenwart. Die ſchroffſten Wechſelfälle lagen im Leben der Menſchen hart neben einander: Ueberfluß und Mangel, Völlerei und Darben, Genuß und Entſagung. Der Anblick blutiger Greuelſzenen, Gewaltakte aller Art, Belagerungen, Hinrichtungen, Bürgerzwiſte, Peſtzeiten, Hungersnöte — all das verbunden mit religiöſer Super- ſtition und einer grauſamen, oft ungerechten Juſtiz mußte die Gemüter der Menſchen aufs tiefſte erſchüttern. Das ruhige Behagen einer in feſten Linien ſich bewegenden ſtetigen Entwicklung war dem Mittelalter fremd. Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 15

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Zitationshilfe: Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/247>, abgerufen am 23.11.2024.