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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 66. Königsschutz.
die übrigen Wirkungen der Immunität verliehen41, während es anderer-
seits vorkommt, dass das Reklamationsrecht ohne die Voraussetzungen
und sonstigen Wirkungen des besonderen Königsschutzes gewährt wird.

Dass einzelne Kleriker sich persönlich in den Schutz des Königs
begeben oder von ihren Kirchenoberen dem König kommendiert wer-
den42, findet sich in karolingischer Zeit vor und nach Ludwig I. Seit
die Vassallität begonnen hatte das Ämterwesen zu durchdringen, wurde
es Brauch, dass Geistliche, die im Dienste des Königs standen, ja so-
gar Bischöfe sich dem König unter Treueid kommendierten43, wo-
gegen die Kirche einen nachhaltigen Kampf eröffnete, der sich in die
nachfränkische Periode hineinzieht.

Frauen, die im Sonderschutze des Königs standen, durften nur
mit seiner Einwilligung in die Ehe gegeben werden44. Mit dieser
in germanischen Rechtsanschauungen begründeten Beschränkung kon-
kurrierte eine schändliche Unsitte, die aus den Zuständen des sinken-
den römischen Reiches stammte, wo nicht selten der Princeps und
höhere Beamte einen missbräuchlichen Heiratszwang ausübten und freie
Mädchen und Witwen nach Gutdünken in die Ehe gaben, indem das
von dem Freier erwirkte Ehepräcept die Zustimmung der Braut und
ihrer Eltern ersetzte45. Wie von den Westgotenkönigen46 wurde der
römische Heiratszwang auch von den Merowingern geübt47. Allein
die Willkürlichkeiten, die sich das Königtum dabei erlaubte, führten

41 In dieser Isolierung wird er sogar als Immunität bezeichnet und in freier
Anlehnung an das Formular der Mundbriefe erteilt. So ist m. E. die Urkunde
Lothars I. für Erzbischof Agilmar von Vienne v. J. 843, Mühlbacher, Nr. 1077,
aufzufassen. Vgl. Th. Sickel, Beiträge III 86. Agilmar erhält für seine Eigen-
güter ein 'praeceptum immunitatis', per quod omnes res suas illi sancimus .., ut
.. quieto eas ipse ac pacifico iure possideat ... Liceat ei cum ipsis rebus vel
hominibus .. sub nostrae immunitatis tuitione ac mundeburdo quiete vivere ac
pacifice residere. Dann folgt das Reklamationsprivileg und schliesslich die An-
drohung der Immunitätsbusse.
42 Waitz, VG IV 262, Anm. 4. 263, Anm. 3.
43 Waitz, VG IV 248.
44 Lex Rib. 35, 3. cf. 58, 12. Eine Eigentümlichkeit des westgotischen
Rechtes ist es, dass der Herr das Recht hat, die Erbtochter seines verstorbenen
Privatsoldaten, des bucellarius, zu verheiraten. Die Tochter des bucellarius, des
Gefolgsmannes, befindet sich 'in patroni potestate'. Geht sie gegen den Willen des
Herrn eine Ehe ein, so verliert sie alles, was der Herr oder dessen Vorfahren
ihrem Vater geschenkt haben. Leges antiquae (Eurici) fr. 310. Lex Wisig. V 3, 1.
Ficker, Erbenfolge, 1891, I 161.
45 Arg. Lex Rom. Wisigoth. C. Th. III 6, 1; 10, 1; 11, 1.
46 Dahn, Könige VI 499.
47 Waitz, VG II 1, S. 213, Anm. 1. Grimm, RA S. 436. Loening,
Kirchenrecht S. 604 f.

§ 66. Königsschutz.
die übrigen Wirkungen der Immunität verliehen41, während es anderer-
seits vorkommt, daſs das Reklamationsrecht ohne die Voraussetzungen
und sonstigen Wirkungen des besonderen Königsschutzes gewährt wird.

Daſs einzelne Kleriker sich persönlich in den Schutz des Königs
begeben oder von ihren Kirchenoberen dem König kommendiert wer-
den42, findet sich in karolingischer Zeit vor und nach Ludwig I. Seit
die Vassallität begonnen hatte das Ämterwesen zu durchdringen, wurde
es Brauch, daſs Geistliche, die im Dienste des Königs standen, ja so-
gar Bischöfe sich dem König unter Treueid kommendierten43, wo-
gegen die Kirche einen nachhaltigen Kampf eröffnete, der sich in die
nachfränkische Periode hineinzieht.

Frauen, die im Sonderschutze des Königs standen, durften nur
mit seiner Einwilligung in die Ehe gegeben werden44. Mit dieser
in germanischen Rechtsanschauungen begründeten Beschränkung kon-
kurrierte eine schändliche Unsitte, die aus den Zuständen des sinken-
den römischen Reiches stammte, wo nicht selten der Princeps und
höhere Beamte einen miſsbräuchlichen Heiratszwang ausübten und freie
Mädchen und Witwen nach Gutdünken in die Ehe gaben, indem das
von dem Freier erwirkte Ehepräcept die Zustimmung der Braut und
ihrer Eltern ersetzte45. Wie von den Westgotenkönigen46 wurde der
römische Heiratszwang auch von den Merowingern geübt47. Allein
die Willkürlichkeiten, die sich das Königtum dabei erlaubte, führten

41 In dieser Isolierung wird er sogar als Immunität bezeichnet und in freier
Anlehnung an das Formular der Mundbriefe erteilt. So ist m. E. die Urkunde
Lothars I. für Erzbischof Agilmar von Vienne v. J. 843, Mühlbacher, Nr. 1077,
aufzufassen. Vgl. Th. Sickel, Beiträge III 86. Agilmar erhält für seine Eigen-
güter ein ‘praeceptum immunitatis’, per quod omnes res suas illi sancimus .., ut
.. quieto eas ipse ac pacifico iure possideat … Liceat ei cum ipsis rebus vel
hominibus .. sub nostrae immunitatis tuitione ac mundeburdo quiete vivere ac
pacifice residere. Dann folgt das Reklamationsprivileg und schlieſslich die An-
drohung der Immunitätsbuſse.
42 Waitz, VG IV 262, Anm. 4. 263, Anm. 3.
43 Waitz, VG IV 248.
44 Lex Rib. 35, 3. cf. 58, 12. Eine Eigentümlichkeit des westgotischen
Rechtes ist es, daſs der Herr das Recht hat, die Erbtochter seines verstorbenen
Privatsoldaten, des bucellarius, zu verheiraten. Die Tochter des bucellarius, des
Gefolgsmannes, befindet sich ‘in patroni potestate’. Geht sie gegen den Willen des
Herrn eine Ehe ein, so verliert sie alles, was der Herr oder dessen Vorfahren
ihrem Vater geschenkt haben. Leges antiquae (Eurici) fr. 310. Lex Wisig. V 3, 1.
Ficker, Erbenfolge, 1891, I 161.
45 Arg. Lex Rom. Wisigoth. C. Th. III 6, 1; 10, 1; 11, 1.
46 Dahn, Könige VI 499.
47 Waitz, VG II 1, S. 213, Anm. 1. Grimm, RA S. 436. Loening,
Kirchenrecht S. 604 f.
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[56/0074] § 66. Königsschutz. die übrigen Wirkungen der Immunität verliehen 41, während es anderer- seits vorkommt, daſs das Reklamationsrecht ohne die Voraussetzungen und sonstigen Wirkungen des besonderen Königsschutzes gewährt wird. Daſs einzelne Kleriker sich persönlich in den Schutz des Königs begeben oder von ihren Kirchenoberen dem König kommendiert wer- den 42, findet sich in karolingischer Zeit vor und nach Ludwig I. Seit die Vassallität begonnen hatte das Ämterwesen zu durchdringen, wurde es Brauch, daſs Geistliche, die im Dienste des Königs standen, ja so- gar Bischöfe sich dem König unter Treueid kommendierten 43, wo- gegen die Kirche einen nachhaltigen Kampf eröffnete, der sich in die nachfränkische Periode hineinzieht. Frauen, die im Sonderschutze des Königs standen, durften nur mit seiner Einwilligung in die Ehe gegeben werden 44. Mit dieser in germanischen Rechtsanschauungen begründeten Beschränkung kon- kurrierte eine schändliche Unsitte, die aus den Zuständen des sinken- den römischen Reiches stammte, wo nicht selten der Princeps und höhere Beamte einen miſsbräuchlichen Heiratszwang ausübten und freie Mädchen und Witwen nach Gutdünken in die Ehe gaben, indem das von dem Freier erwirkte Ehepräcept die Zustimmung der Braut und ihrer Eltern ersetzte 45. Wie von den Westgotenkönigen 46 wurde der römische Heiratszwang auch von den Merowingern geübt 47. Allein die Willkürlichkeiten, die sich das Königtum dabei erlaubte, führten 41 In dieser Isolierung wird er sogar als Immunität bezeichnet und in freier Anlehnung an das Formular der Mundbriefe erteilt. So ist m. E. die Urkunde Lothars I. für Erzbischof Agilmar von Vienne v. J. 843, Mühlbacher, Nr. 1077, aufzufassen. Vgl. Th. Sickel, Beiträge III 86. Agilmar erhält für seine Eigen- güter ein ‘praeceptum immunitatis’, per quod omnes res suas illi sancimus .., ut .. quieto eas ipse ac pacifico iure possideat … Liceat ei cum ipsis rebus vel hominibus .. sub nostrae immunitatis tuitione ac mundeburdo quiete vivere ac pacifice residere. Dann folgt das Reklamationsprivileg und schlieſslich die An- drohung der Immunitätsbuſse. 42 Waitz, VG IV 262, Anm. 4. 263, Anm. 3. 43 Waitz, VG IV 248. 44 Lex Rib. 35, 3. cf. 58, 12. Eine Eigentümlichkeit des westgotischen Rechtes ist es, daſs der Herr das Recht hat, die Erbtochter seines verstorbenen Privatsoldaten, des bucellarius, zu verheiraten. Die Tochter des bucellarius, des Gefolgsmannes, befindet sich ‘in patroni potestate’. Geht sie gegen den Willen des Herrn eine Ehe ein, so verliert sie alles, was der Herr oder dessen Vorfahren ihrem Vater geschenkt haben. Leges antiquae (Eurici) fr. 310. Lex Wisig. V 3, 1. Ficker, Erbenfolge, 1891, I 161. 45 Arg. Lex Rom. Wisigoth. C. Th. III 6, 1; 10, 1; 11, 1. 46 Dahn, Könige VI 499. 47 Waitz, VG II 1, S. 213, Anm. 1. Grimm, RA S. 436. Loening, Kirchenrecht S. 604 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/74>, abgerufen am 24.11.2024.