dass er den Vorwurf nicht auf Kenntnis von Thatsachen hin, sondern aus Jähzorn (per furorem) erhoben habe. Hält er die Behauptung aufrecht, dass die Geschmähte eine Hexe oder Hure sei, so steigert sich sein Delikt zur verleumderischen Anschuldigung. Denn jene ist, wenn er mit dem Wahrheitsbeweise durchdringt, mit ihrem Leben der Strafgewalt der Sippe verfallen 15.
Die nordischen Quellen unterscheiden bei der Schelte Vollrechts- worte und Halbrechtsworte, je nachdem dafür volles oder halbes Recht (Busse) zu zahlen ist. Gewisse Schmähungen, so die der Feigheit, geben dem Gescholtenen nach isländischem Rechte die Befugnis so- fortiger Tötung und haben, wenn im Rechtswege geltend gemacht, die Verurteilung zum Waldgange zur Folge. Eine eigenartige Gruppe von Ehrenkränkungen fasst der Begriff der yki, der Übertreibung, zusammen. Es sind Scheltworte, die etwas Unmögliches enthalten, z. B. dass ein Mann jede neunte Nacht ein Weib sei, dass er ein Kind ge- boren habe. Erwähnt mag hier noch werden, dass nach dem dritten Gudrunliede der Edda die Magd Herkia, weil sie die Gudrun bei ihrem Gatten wegen Ehebruchs verleumdet hatte, im Sumpf erstickt wurde, nachdem das Gottesurteil des Kesselfangs die wissentlich falsche An- schuldigung ergeben hatte.
Ein allgemeiner Begriff der Realinjurie war dem älteren Rechte unbekannt. Das Wort iniuria wird in so weitem Sinne gebraucht, dass es nicht nur die Körperverletzung, sondern auch die Tötung bezeichnen kann 16. Doch äussert sich der Schutz gegen Ehrenkrän- kungen, die nicht durch Worte, sondern durch Werke geschehen, in mannigfaltiger Weise. Gewisse an sich strafbare Handlungen werden durch das Merkmal der Ehrenkränkung als Missethaten höherer Straf- barkeit qualifiziert. Darum wird z. B. bei den Langobarden die Maul- schelle doppelt so hoch als der Faustschlag 17, der Haargriff bei den Sachsen so hoch wie Blutrunst gebüsst 18. Das halbe Wergeld setzt Rothari als Busse, wenn man mit Gefolge einen freien Mann überfällt und schmählich durchprügelt 19. Bei Verlöbnisbruch verlangt das Baiernrecht von dem Schuldigen ausser der Busse eine eidliche Ehrenerklärung zu Gunsten der Braut und ihrer Sippe 20. Gewalt-
15 Darum büsst andererseits der beweisfällige Verleumder das Wergeld des Verleumdeten. Roth. 198.
16 Lex Alam. 11--15. Cap. legg. add. 818/9, c. 2, I 281.
17 Roth. 44.
18 Lex Sax. 7.
19 Roth. 41: eo quod in turpe et in derisiculum ipsius eum male tractavit.
20 Siehe oben S. 380.
§ 144. Ehrenkränkung und falsche Anklage.
daſs er den Vorwurf nicht auf Kenntnis von Thatsachen hin, sondern aus Jähzorn (per furorem) erhoben habe. Hält er die Behauptung aufrecht, daſs die Geschmähte eine Hexe oder Hure sei, so steigert sich sein Delikt zur verleumderischen Anschuldigung. Denn jene ist, wenn er mit dem Wahrheitsbeweise durchdringt, mit ihrem Leben der Strafgewalt der Sippe verfallen 15.
Die nordischen Quellen unterscheiden bei der Schelte Vollrechts- worte und Halbrechtsworte, je nachdem dafür volles oder halbes Recht (Buſse) zu zahlen ist. Gewisse Schmähungen, so die der Feigheit, geben dem Gescholtenen nach isländischem Rechte die Befugnis so- fortiger Tötung und haben, wenn im Rechtswege geltend gemacht, die Verurteilung zum Waldgange zur Folge. Eine eigenartige Gruppe von Ehrenkränkungen faſst der Begriff der ýki, der Übertreibung, zusammen. Es sind Scheltworte, die etwas Unmögliches enthalten, z. B. daſs ein Mann jede neunte Nacht ein Weib sei, daſs er ein Kind ge- boren habe. Erwähnt mag hier noch werden, daſs nach dem dritten Gudrunliede der Edda die Magd Herkia, weil sie die Gudrun bei ihrem Gatten wegen Ehebruchs verleumdet hatte, im Sumpf erstickt wurde, nachdem das Gottesurteil des Kesselfangs die wissentlich falsche An- schuldigung ergeben hatte.
Ein allgemeiner Begriff der Realinjurie war dem älteren Rechte unbekannt. Das Wort iniuria wird in so weitem Sinne gebraucht, daſs es nicht nur die Körperverletzung, sondern auch die Tötung bezeichnen kann 16. Doch äuſsert sich der Schutz gegen Ehrenkrän- kungen, die nicht durch Worte, sondern durch Werke geschehen, in mannigfaltiger Weise. Gewisse an sich strafbare Handlungen werden durch das Merkmal der Ehrenkränkung als Missethaten höherer Straf- barkeit qualifiziert. Darum wird z. B. bei den Langobarden die Maul- schelle doppelt so hoch als der Faustschlag 17, der Haargriff bei den Sachsen so hoch wie Blutrunst gebüſst 18. Das halbe Wergeld setzt Rothari als Buſse, wenn man mit Gefolge einen freien Mann überfällt und schmählich durchprügelt 19. Bei Verlöbnisbruch verlangt das Baiernrecht von dem Schuldigen auſser der Buſse eine eidliche Ehrenerklärung zu Gunsten der Braut und ihrer Sippe 20. Gewalt-
15 Darum büſst andererseits der beweisfällige Verleumder das Wergeld des Verleumdeten. Roth. 198.
16 Lex Alam. 11—15. Cap. legg. add. 818/9, c. 2, I 281.
17 Roth. 44.
18 Lex Sax. 7.
19 Roth. 41: eo quod in turpe et in derisiculum ipsius eum male tractavit.
20 Siehe oben S. 380.
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§ 144. Ehrenkränkung und falsche Anklage.
daſs er den Vorwurf nicht auf Kenntnis von Thatsachen hin, sondern
aus Jähzorn (per furorem) erhoben habe. Hält er die Behauptung
aufrecht, daſs die Geschmähte eine Hexe oder Hure sei, so steigert
sich sein Delikt zur verleumderischen Anschuldigung. Denn jene ist,
wenn er mit dem Wahrheitsbeweise durchdringt, mit ihrem Leben der
Strafgewalt der Sippe verfallen 15.
Die nordischen Quellen unterscheiden bei der Schelte Vollrechts-
worte und Halbrechtsworte, je nachdem dafür volles oder halbes Recht
(Buſse) zu zahlen ist. Gewisse Schmähungen, so die der Feigheit,
geben dem Gescholtenen nach isländischem Rechte die Befugnis so-
fortiger Tötung und haben, wenn im Rechtswege geltend gemacht,
die Verurteilung zum Waldgange zur Folge. Eine eigenartige Gruppe
von Ehrenkränkungen faſst der Begriff der ýki, der Übertreibung,
zusammen. Es sind Scheltworte, die etwas Unmögliches enthalten,
z. B. daſs ein Mann jede neunte Nacht ein Weib sei, daſs er ein Kind ge-
boren habe. Erwähnt mag hier noch werden, daſs nach dem dritten
Gudrunliede der Edda die Magd Herkia, weil sie die Gudrun bei ihrem
Gatten wegen Ehebruchs verleumdet hatte, im Sumpf erstickt wurde,
nachdem das Gottesurteil des Kesselfangs die wissentlich falsche An-
schuldigung ergeben hatte.
Ein allgemeiner Begriff der Realinjurie war dem älteren Rechte
unbekannt. Das Wort iniuria wird in so weitem Sinne gebraucht,
daſs es nicht nur die Körperverletzung, sondern auch die Tötung
bezeichnen kann 16. Doch äuſsert sich der Schutz gegen Ehrenkrän-
kungen, die nicht durch Worte, sondern durch Werke geschehen, in
mannigfaltiger Weise. Gewisse an sich strafbare Handlungen werden
durch das Merkmal der Ehrenkränkung als Missethaten höherer Straf-
barkeit qualifiziert. Darum wird z. B. bei den Langobarden die Maul-
schelle doppelt so hoch als der Faustschlag 17, der Haargriff bei
den Sachsen so hoch wie Blutrunst gebüſst 18. Das halbe Wergeld
setzt Rothari als Buſse, wenn man mit Gefolge einen freien Mann
überfällt und schmählich durchprügelt 19. Bei Verlöbnisbruch verlangt
das Baiernrecht von dem Schuldigen auſser der Buſse eine eidliche
Ehrenerklärung zu Gunsten der Braut und ihrer Sippe 20. Gewalt-
15 Darum büſst andererseits der beweisfällige Verleumder das Wergeld des
Verleumdeten. Roth. 198.
16 Lex Alam. 11—15. Cap. legg. add. 818/9, c. 2, I 281.
17 Roth. 44.
18 Lex Sax. 7.
19 Roth. 41: eo quod in turpe et in derisiculum ipsius eum male tractavit.
20 Siehe oben S. 380.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/692>, abgerufen am 22.11.2024.
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