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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 138. Mord, Todschlag und Körperverletzung.
von einem Gegner durch Schläge oder Wunden gereizt, diesen ver-
folgt und 'dolore aut indignatione compulsus' tötet32. Exzess der
Notwehr kann unter Umständen Tötung 'se defendendo' sein, füllt
aber den Begriff nicht aus33.

Dem Volksrechte gegenüber war der Gedanke der vermessentlichen
Tötung eine Neuerung. Nach Volksrecht hat nicht nur bei dieser,
sondern auch bei dem homicidium se defendendo die Sippe der toten
Hand das Recht der Fehde und Rache. Kommt es zur Sühne, so
werden beide Arten des Todschlags durch Zahlung des Wergeldes
und des Friedensgeldes gesühnt. Ebenso die casuelle Tötung, die
nicht als typisches Ungefährwerk anerkannt ist. Doch dürfte sich die
Behandlung der vermessentlichen Tötung insofern thatsächlich aus-
gezeichnet haben, als die Sippe der toten Hand minder geneigt war,
sich durch Sühne die Fehde abkaufen zu lassen. Erst die königliche
Gesetzgebung der fränkischen Zeit suchte den Unterschied strafrecht-
lich zu verwerten und eine schärfere Ahndung des vermessentlichen
Todschlags einzuführen. Die Lex Burgundionum bedroht ihn mit dem
Tode, der Langobardenkönig Liutprand mit dem Verluste des Ver-
mögens34. Der Merowinger Childebert II. giebt den Thäter durch Aus-
schliessung des Sühneurteils und der Magschaftshilfe dem Rachetode
preis35. Ein Kapitular Ludwigs I. legt ihm die Zahlung des Wer-
geldes auf und verhängt ausserdem die Strafe des Exils36. Karl II.
fügt den volksrechtlichen Folgen der Tötung den Königsbann und
kirchliche Busse hinzu37. Die Capitula Remedii strafen den rück-
fälligen Todschläger bei dem ersten Rückfalle mit Blendung und geben
ihn bei dem zweiten der Todesstrafe preis38. Den auf der Heer-
fahrt vermessentlich begangenen Todschlag bedroht mit Verlust des
Lebens eine Satzung Ludwigs II.39.


32 Lex Burg. 2, 2. Cap. legg. add. 818/9, c. 1, I 281: si vero foris rixati
fuerint et unus alterum in ecclesiam fugerit et ibi se defendendo eum interfecerit.
33 Als technischer Ausdruck ist das homicidium se defendendo (ex necessitate
culpabili) dem anglo-normannischen Rechte und der englischen Rechtswissenschaft
bekannt. Bracton's Note Book ed. Maitland Nr. 1216. Coke, 2 Inst. 316. Black-
stone
, Comm. IV 186.
34 Lex Burg. 2, 1. Liu. 20. Falls das Vermögen des Todschlägers nicht mehr
beträgt als das Wergeld des Getöteten, wird jener der Magschaft ausgeliefert.
35 Siehe oben S. 529.
36 Cap. legg. add. 818/9, c. 7, I 282.
37 Cap. missorum v. J. 857, c. 3, Pertz, LL I 455.
38 Cap. Remedii c. 3.
39 Const. de exped. Beneventana v. J. 866, c. 11, Cap. II 96.

§ 138. Mord, Todschlag und Körperverletzung.
von einem Gegner durch Schläge oder Wunden gereizt, diesen ver-
folgt und ‘dolore aut indignatione compulsus’ tötet32. Exzeſs der
Notwehr kann unter Umständen Tötung ‘se defendendo’ sein, füllt
aber den Begriff nicht aus33.

Dem Volksrechte gegenüber war der Gedanke der vermessentlichen
Tötung eine Neuerung. Nach Volksrecht hat nicht nur bei dieser,
sondern auch bei dem homicidium se defendendo die Sippe der toten
Hand das Recht der Fehde und Rache. Kommt es zur Sühne, so
werden beide Arten des Todschlags durch Zahlung des Wergeldes
und des Friedensgeldes gesühnt. Ebenso die casuelle Tötung, die
nicht als typisches Ungefährwerk anerkannt ist. Doch dürfte sich die
Behandlung der vermessentlichen Tötung insofern thatsächlich aus-
gezeichnet haben, als die Sippe der toten Hand minder geneigt war,
sich durch Sühne die Fehde abkaufen zu lassen. Erst die königliche
Gesetzgebung der fränkischen Zeit suchte den Unterschied strafrecht-
lich zu verwerten und eine schärfere Ahndung des vermessentlichen
Todschlags einzuführen. Die Lex Burgundionum bedroht ihn mit dem
Tode, der Langobardenkönig Liutprand mit dem Verluste des Ver-
mögens34. Der Merowinger Childebert II. giebt den Thäter durch Aus-
schlieſsung des Sühneurteils und der Magschaftshilfe dem Rachetode
preis35. Ein Kapitular Ludwigs I. legt ihm die Zahlung des Wer-
geldes auf und verhängt auſserdem die Strafe des Exils36. Karl II.
fügt den volksrechtlichen Folgen der Tötung den Königsbann und
kirchliche Buſse hinzu37. Die Capitula Remedii strafen den rück-
fälligen Todschläger bei dem ersten Rückfalle mit Blendung und geben
ihn bei dem zweiten der Todesstrafe preis38. Den auf der Heer-
fahrt vermessentlich begangenen Todschlag bedroht mit Verlust des
Lebens eine Satzung Ludwigs II.39.


32 Lex Burg. 2, 2. Cap. legg. add. 818/9, c. 1, I 281: si vero foris rixati
fuerint et unus alterum in ecclesiam fugerit et ibi se defendendo eum interfecerit.
33 Als technischer Ausdruck ist das homicidium se defendendo (ex necessitate
culpabili) dem anglo-normannischen Rechte und der englischen Rechtswissenschaft
bekannt. Bracton’s Note Book ed. Maitland Nr. 1216. Coke, 2 Inst. 316. Black-
stone
, Comm. IV 186.
34 Lex Burg. 2, 1. Liu. 20. Falls das Vermögen des Todschlägers nicht mehr
beträgt als das Wergeld des Getöteten, wird jener der Magschaft ausgeliefert.
35 Siehe oben S. 529.
36 Cap. legg. add. 818/9, c. 7, I 282.
37 Cap. missorum v. J. 857, c. 3, Pertz, LL I 455.
38 Cap. Remedii c. 3.
39 Const. de exped. Beneventana v. J. 866, c. 11, Cap. II 96.
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[631/0649] § 138. Mord, Todschlag und Körperverletzung. von einem Gegner durch Schläge oder Wunden gereizt, diesen ver- folgt und ‘dolore aut indignatione compulsus’ tötet 32. Exzeſs der Notwehr kann unter Umständen Tötung ‘se defendendo’ sein, füllt aber den Begriff nicht aus 33. Dem Volksrechte gegenüber war der Gedanke der vermessentlichen Tötung eine Neuerung. Nach Volksrecht hat nicht nur bei dieser, sondern auch bei dem homicidium se defendendo die Sippe der toten Hand das Recht der Fehde und Rache. Kommt es zur Sühne, so werden beide Arten des Todschlags durch Zahlung des Wergeldes und des Friedensgeldes gesühnt. Ebenso die casuelle Tötung, die nicht als typisches Ungefährwerk anerkannt ist. Doch dürfte sich die Behandlung der vermessentlichen Tötung insofern thatsächlich aus- gezeichnet haben, als die Sippe der toten Hand minder geneigt war, sich durch Sühne die Fehde abkaufen zu lassen. Erst die königliche Gesetzgebung der fränkischen Zeit suchte den Unterschied strafrecht- lich zu verwerten und eine schärfere Ahndung des vermessentlichen Todschlags einzuführen. Die Lex Burgundionum bedroht ihn mit dem Tode, der Langobardenkönig Liutprand mit dem Verluste des Ver- mögens 34. Der Merowinger Childebert II. giebt den Thäter durch Aus- schlieſsung des Sühneurteils und der Magschaftshilfe dem Rachetode preis 35. Ein Kapitular Ludwigs I. legt ihm die Zahlung des Wer- geldes auf und verhängt auſserdem die Strafe des Exils 36. Karl II. fügt den volksrechtlichen Folgen der Tötung den Königsbann und kirchliche Buſse hinzu 37. Die Capitula Remedii strafen den rück- fälligen Todschläger bei dem ersten Rückfalle mit Blendung und geben ihn bei dem zweiten der Todesstrafe preis 38. Den auf der Heer- fahrt vermessentlich begangenen Todschlag bedroht mit Verlust des Lebens eine Satzung Ludwigs II. 39. 32 Lex Burg. 2, 2. Cap. legg. add. 818/9, c. 1, I 281: si vero foris rixati fuerint et unus alterum in ecclesiam fugerit et ibi se defendendo eum interfecerit. 33 Als technischer Ausdruck ist das homicidium se defendendo (ex necessitate culpabili) dem anglo-normannischen Rechte und der englischen Rechtswissenschaft bekannt. Bracton’s Note Book ed. Maitland Nr. 1216. Coke, 2 Inst. 316. Black- stone, Comm. IV 186. 34 Lex Burg. 2, 1. Liu. 20. Falls das Vermögen des Todschlägers nicht mehr beträgt als das Wergeld des Getöteten, wird jener der Magschaft ausgeliefert. 35 Siehe oben S. 529. 36 Cap. legg. add. 818/9, c. 7, I 282. 37 Cap. missorum v. J. 857, c. 3, Pertz, LL I 455. 38 Cap. Remedii c. 3. 39 Const. de exped. Beneventana v. J. 866, c. 11, Cap. II 96.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/649>, abgerufen am 22.11.2024.