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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.
Gliederstrafen notdürftig abgefunden hatte, betrachtete sie deren Ver-
hängung als Monopol der Obrigkeit, indem sie das Blutvergiessen im
Wege der Rache und der Privatstrafe nach wie vor verurteilte 7.
Ausserdem machte sie von altersher zum Schutze der Verbrecher ihr
Asylrecht geltend.

Den Germanen waren die Tempel und Haine ihrer Götter Friedens-
stätten gewesen. Man durfte sie nicht bewaffnet betreten, niemand
gewaltsam daraus wegführen 8. Die spätrömische Kaisergesetzgebung
sanktionierte ein Asylrecht der christlichen Kirchen, indem sie bei
Todesstrafe verbot, den Flüchtling mit Gewalt dem Asyl zu entreissen.
In den germanischen Staaten wurde das von der Kirche beanspruchte
Asylrecht allenthalben innerhalb bestimmter Grenzen anerkannt 9.

Asyl war nicht nur die Kirche, sondern auch der Vorhof, atrium,
freithof 10. Weil es dem Asylgedanken widerspräche, Bluturteile zu fällen,
verbieten karolingische Kapitularien, dass auf dem Vorhofe der Kirche
Gericht gehalten werde 11. Auch für die Nebengebäude der Kirche,
für das Haus des Bischofs, schliesslich auch für die Wohnungen der
Priester machte die Kirche den Asylschutz geltend 12.

Die Heiligkeit des kirchlichen Asyls begründete eine Ausnahme von
dem Rechtssatze, dass sich strafbarer Begünstigung schuldig mache,
wer einem Verbrecher Unterstand gewährt. Ebenso fand das allgemeine
Recht und die allgemeine Pflicht, den Verbrecher zu verfolgen, eine
Schranke an dem Asyl, weil er darin nicht getötet, nicht mit Gewalt
daraus entfernt werden durfte 13. Das Asyl schützte den Faidosus gegen

7 Relatio episcoporum v. J. 829, c. 29, Cap. II 38 oben S. 530, Anm. 14.
8 Vergleiche damit den Freiort im Kinderspiel.
9 Edictum Theoderici c. 70. Cassiodor, Var. III 47. Lex Wisig. III 3, 2;
V 4, 17; VI 5, 16; IX 3, 4. Lex Rom. Wisig. C. Th. IX 34. Lex Burg. 70, 2.
Lex Rom. Burg. 2, 5.
10 Gemäss der Vorschrift in Cod. Theod. IX 45, 4 v. J. 431. Pactus pro
tenore pacis c. 14 (bei Kirchen ohne geschlossenen Vorhof der Umkreis eines
halben Morgens). Cap. legg. add. v. J. 803, c. 3, I 113. Cap. miss v. J. 813(?),
c. 8, I 182: statutum est enim, si quis reus in atrium ecclesie confugerit, non sit
opus ecclesiam ingredi, sed ante ianuam pacem habeat.
11 Cap. miss. v. J. 813(?), c. 8, I 182: ut nullus in atrium ecclesiae secularia
iudicia facere praesumat, quia solent ibi omines ad mortem iudicare. Cap. Carisiac.
v. J. 873, c. 12, Pertz, LL I 521: quia non est aequum, ut ibi homines ad mortem
iudicentur et dismembrentur et flagellentur, ubi si confugerint, ... pacem habere
debent. Vgl. Cap. excerpta c. 21, I 174. Cap. Mantuan. secund. c. 4, I 196.
Cap. Suession. Pertz, v. J. 853, c. 7, LL I 420.
12 Cod. Theod. IX 45, c. 4. Concil. Aurelian. v. J. 511, c. 1. Siehe oben
S. 284, Anm. 42.
13 Auf Verletzung des Asyls hat Lex Alam. 3, 3 eine Busse von 36 (al. 18)
Solidi und den fredus von 40 (60) Solidi. Tötung in der Kirche ist als pollutio

§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.
Gliederstrafen notdürftig abgefunden hatte, betrachtete sie deren Ver-
hängung als Monopol der Obrigkeit, indem sie das Blutvergieſsen im
Wege der Rache und der Privatstrafe nach wie vor verurteilte 7.
Auſserdem machte sie von altersher zum Schutze der Verbrecher ihr
Asylrecht geltend.

Den Germanen waren die Tempel und Haine ihrer Götter Friedens-
stätten gewesen. Man durfte sie nicht bewaffnet betreten, niemand
gewaltsam daraus wegführen 8. Die spätrömische Kaisergesetzgebung
sanktionierte ein Asylrecht der christlichen Kirchen, indem sie bei
Todesstrafe verbot, den Flüchtling mit Gewalt dem Asyl zu entreiſsen.
In den germanischen Staaten wurde das von der Kirche beanspruchte
Asylrecht allenthalben innerhalb bestimmter Grenzen anerkannt 9.

Asyl war nicht nur die Kirche, sondern auch der Vorhof, atrium,
frîthof 10. Weil es dem Asylgedanken widerspräche, Bluturteile zu fällen,
verbieten karolingische Kapitularien, daſs auf dem Vorhofe der Kirche
Gericht gehalten werde 11. Auch für die Nebengebäude der Kirche,
für das Haus des Bischofs, schlieſslich auch für die Wohnungen der
Priester machte die Kirche den Asylschutz geltend 12.

Die Heiligkeit des kirchlichen Asyls begründete eine Ausnahme von
dem Rechtssatze, daſs sich strafbarer Begünstigung schuldig mache,
wer einem Verbrecher Unterstand gewährt. Ebenso fand das allgemeine
Recht und die allgemeine Pflicht, den Verbrecher zu verfolgen, eine
Schranke an dem Asyl, weil er darin nicht getötet, nicht mit Gewalt
daraus entfernt werden durfte 13. Das Asyl schützte den Faidosus gegen

7 Relatio episcoporum v. J. 829, c. 29, Cap. II 38 oben S. 530, Anm. 14.
8 Vergleiche damit den Freiort im Kinderspiel.
9 Edictum Theoderici c. 70. Cassiodor, Var. III 47. Lex Wisig. III 3, 2;
V 4, 17; VI 5, 16; IX 3, 4. Lex Rom. Wisig. C. Th. IX 34. Lex Burg. 70, 2.
Lex Rom. Burg. 2, 5.
10 Gemäſs der Vorschrift in Cod. Theod. IX 45, 4 v. J. 431. Pactus pro
tenore pacis c. 14 (bei Kirchen ohne geschlossenen Vorhof der Umkreis eines
halben Morgens). Cap. legg. add. v. J. 803, c. 3, I 113. Cap. miss v. J. 813(?),
c. 8, I 182: statutum est enim, si quis reus in atrium ecclesie confugerit, non sit
opus ecclesiam ingredi, sed ante ianuam pacem habeat.
11 Cap. miss. v. J. 813(?), c. 8, I 182: ut nullus in atrium ecclesiae secularia
iudicia facere praesumat, quia solent ibi omines ad mortem iudicare. Cap. Carisiac.
v. J. 873, c. 12, Pertz, LL I 521: quia non est aequum, ut ibi homines ad mortem
iudicentur et dismembrentur et flagellentur, ubi si confugerint, … pacem habere
debent. Vgl. Cap. excerpta c. 21, I 174. Cap. Mantuan. secund. c. 4, I 196.
Cap. Suession. Pertz, v. J. 853, c. 7, LL I 420.
12 Cod. Theod. IX 45, c. 4. Concil. Aurelian. v. J. 511, c. 1. Siehe oben
S. 284, Anm. 42.
13 Auf Verletzung des Asyls hat Lex Alam. 3, 3 eine Buſse von 36 (al. 18)
Solidi und den fredus von 40 (60) Solidi. Tötung in der Kirche ist als pollutio
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[610/0628] § 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen. Gliederstrafen notdürftig abgefunden hatte, betrachtete sie deren Ver- hängung als Monopol der Obrigkeit, indem sie das Blutvergieſsen im Wege der Rache und der Privatstrafe nach wie vor verurteilte 7. Auſserdem machte sie von altersher zum Schutze der Verbrecher ihr Asylrecht geltend. Den Germanen waren die Tempel und Haine ihrer Götter Friedens- stätten gewesen. Man durfte sie nicht bewaffnet betreten, niemand gewaltsam daraus wegführen 8. Die spätrömische Kaisergesetzgebung sanktionierte ein Asylrecht der christlichen Kirchen, indem sie bei Todesstrafe verbot, den Flüchtling mit Gewalt dem Asyl zu entreiſsen. In den germanischen Staaten wurde das von der Kirche beanspruchte Asylrecht allenthalben innerhalb bestimmter Grenzen anerkannt 9. Asyl war nicht nur die Kirche, sondern auch der Vorhof, atrium, frîthof 10. Weil es dem Asylgedanken widerspräche, Bluturteile zu fällen, verbieten karolingische Kapitularien, daſs auf dem Vorhofe der Kirche Gericht gehalten werde 11. Auch für die Nebengebäude der Kirche, für das Haus des Bischofs, schlieſslich auch für die Wohnungen der Priester machte die Kirche den Asylschutz geltend 12. Die Heiligkeit des kirchlichen Asyls begründete eine Ausnahme von dem Rechtssatze, daſs sich strafbarer Begünstigung schuldig mache, wer einem Verbrecher Unterstand gewährt. Ebenso fand das allgemeine Recht und die allgemeine Pflicht, den Verbrecher zu verfolgen, eine Schranke an dem Asyl, weil er darin nicht getötet, nicht mit Gewalt daraus entfernt werden durfte 13. Das Asyl schützte den Faidosus gegen 7 Relatio episcoporum v. J. 829, c. 29, Cap. II 38 oben S. 530, Anm. 14. 8 Vergleiche damit den Freiort im Kinderspiel. 9 Edictum Theoderici c. 70. Cassiodor, Var. III 47. Lex Wisig. III 3, 2; V 4, 17; VI 5, 16; IX 3, 4. Lex Rom. Wisig. C. Th. IX 34. Lex Burg. 70, 2. Lex Rom. Burg. 2, 5. 10 Gemäſs der Vorschrift in Cod. Theod. IX 45, 4 v. J. 431. Pactus pro tenore pacis c. 14 (bei Kirchen ohne geschlossenen Vorhof der Umkreis eines halben Morgens). Cap. legg. add. v. J. 803, c. 3, I 113. Cap. miss v. J. 813(?), c. 8, I 182: statutum est enim, si quis reus in atrium ecclesie confugerit, non sit opus ecclesiam ingredi, sed ante ianuam pacem habeat. 11 Cap. miss. v. J. 813(?), c. 8, I 182: ut nullus in atrium ecclesiae secularia iudicia facere praesumat, quia solent ibi omines ad mortem iudicare. Cap. Carisiac. v. J. 873, c. 12, Pertz, LL I 521: quia non est aequum, ut ibi homines ad mortem iudicentur et dismembrentur et flagellentur, ubi si confugerint, … pacem habere debent. Vgl. Cap. excerpta c. 21, I 174. Cap. Mantuan. secund. c. 4, I 196. Cap. Suession. Pertz, v. J. 853, c. 7, LL I 420. 12 Cod. Theod. IX 45, c. 4. Concil. Aurelian. v. J. 511, c. 1. Siehe oben S. 284, Anm. 42. 13 Auf Verletzung des Asyls hat Lex Alam. 3, 3 eine Buſse von 36 (al. 18) Solidi und den fredus von 40 (60) Solidi. Tötung in der Kirche ist als pollutio

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/628>, abgerufen am 22.11.2024.