§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.
bedurfte nur einer grundsätzlichen Ausdehnung jener Institutionen, um einen Ersatz der peinlichen Strafen zu gewinnen.
Auf dem Einflusse der Kirche beruhte es, dass in den merowingischen Volksrechten des fränkischen Reiches die Lebens- und Leibesstrafen hinter den Bussen fast völlig verschwanden. Wenn sie trotzdem, namentlieh in Fällen der handhaften That und der Insolvenz, zur An- wendung kamen, so war doch der Geistlichkeit durch das Busssystem, durch die Lösungstaxen und durch das öffentliche Ausbieten des dem Tode verfallenen Missethäters wenigstens die Möglichkeit gegeben, im einzelnen Falle den Vollzug der peinlichen Strafe auszuschliessen.
Seit Ausgang der merowingischen Periode wurde der Eifer, den die leitenden kirchlichen Kreise gegen die Blutjustiz entwickelten, merklich schwächer. Er kühlte sich ab, als bei der hohen Geistlich- keit durch die Teilnahme an der Staatsverwaltung das Gefühl der Verantwortlichkeit für das Gedeihen des Gemeinwesens und das Inter- esse an der Friedensbewahrung gestiegen waren. Zur Zeit Karls des Grossen ist die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen eine andere, als in den Tagen Chlodovechs, Dagoberts, Lantfrids und Odilos. Im Jahre 779 kann sich Karl der Grosse auf das Zeugnis der Bischöfe berufen, dass die Richter keine Sünde begehen, wenn sie in Ausübung der Rechtspflege Diebe und Räuber an Leib oder Leben strafen 4. Sicherlich geschah es nicht gegen den Willen der Hierarchie, als Karl der Grosse in der Capitulatio de partibus Saxoniae und in der Lex Saxonum zum Schutze der Geistlichen und zur gewaltsamen Christianisierung der Sachsen von der Androhung des Todes den aus- giebigsten Gebrauch machte.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen wir bei den Angelsachsen wahr, bei denen laut dem Zeugnis des Königs Alfred nach der Be- kehrung zum Christentum die Todesstrafe für alle Vergehen -- aus- genommen den Verrat des Herrn und den Rückfall -- beseitigt worden war 5, wogegen seit dem zehnten Jahrhundert das Strafrecht strenger wurde, die Todesstrafen sich mehrten und der Begriff der busslosen That in das angelsächsische Recht eindrang.
Abgesehen von dem grundsätzlichen, mit wechselnder Energie ge- führten Kampfe gegen die Lebensverwirkung, setzte die Kirche im fränkischen Reiche durch, dass es verboten wurde, an Sonntagen pein- liche Strafen zu erkennen 6. Soweit sie sich mit den Todes- und
4 Cap. Haristall. c. 11, I 49.
5 Alfred, Einleitung 49, § 7.
6 Cap. e canon. excerpta v. J. 813, c. 15, I 174. Syn. Suession. v. J. 853, c. 9, Pertz, LL I 419. Cap. miss. c. 7, a. O. S. 420. Cap. de part. Sax. c. 18.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 39
§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.
bedurfte nur einer grundsätzlichen Ausdehnung jener Institutionen, um einen Ersatz der peinlichen Strafen zu gewinnen.
Auf dem Einflusse der Kirche beruhte es, daſs in den merowingischen Volksrechten des fränkischen Reiches die Lebens- und Leibesstrafen hinter den Buſsen fast völlig verschwanden. Wenn sie trotzdem, namentlieh in Fällen der handhaften That und der Insolvenz, zur An- wendung kamen, so war doch der Geistlichkeit durch das Buſssystem, durch die Lösungstaxen und durch das öffentliche Ausbieten des dem Tode verfallenen Missethäters wenigstens die Möglichkeit gegeben, im einzelnen Falle den Vollzug der peinlichen Strafe auszuschlieſsen.
Seit Ausgang der merowingischen Periode wurde der Eifer, den die leitenden kirchlichen Kreise gegen die Blutjustiz entwickelten, merklich schwächer. Er kühlte sich ab, als bei der hohen Geistlich- keit durch die Teilnahme an der Staatsverwaltung das Gefühl der Verantwortlichkeit für das Gedeihen des Gemeinwesens und das Inter- esse an der Friedensbewahrung gestiegen waren. Zur Zeit Karls des Groſsen ist die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen eine andere, als in den Tagen Chlodovechs, Dagoberts, Lantfrids und Odilos. Im Jahre 779 kann sich Karl der Groſse auf das Zeugnis der Bischöfe berufen, daſs die Richter keine Sünde begehen, wenn sie in Ausübung der Rechtspflege Diebe und Räuber an Leib oder Leben strafen 4. Sicherlich geschah es nicht gegen den Willen der Hierarchie, als Karl der Groſse in der Capitulatio de partibus Saxoniae und in der Lex Saxonum zum Schutze der Geistlichen und zur gewaltsamen Christianisierung der Sachsen von der Androhung des Todes den aus- giebigsten Gebrauch machte.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen wir bei den Angelsachsen wahr, bei denen laut dem Zeugnis des Königs Alfred nach der Be- kehrung zum Christentum die Todesstrafe für alle Vergehen — aus- genommen den Verrat des Herrn und den Rückfall — beseitigt worden war 5, wogegen seit dem zehnten Jahrhundert das Strafrecht strenger wurde, die Todesstrafen sich mehrten und der Begriff der buſslosen That in das angelsächsische Recht eindrang.
Abgesehen von dem grundsätzlichen, mit wechselnder Energie ge- führten Kampfe gegen die Lebensverwirkung, setzte die Kirche im fränkischen Reiche durch, daſs es verboten wurde, an Sonntagen pein- liche Strafen zu erkennen 6. Soweit sie sich mit den Todes- und
4 Cap. Haristall. c. 11, I 49.
5 Alfred, Einleitung 49, § 7.
6 Cap. e canon. excerpta v. J. 813, c. 15, I 174. Syn. Suession. v. J. 853, c. 9, Pertz, LL I 419. Cap. miss. c. 7, a. O. S. 420. Cap. de part. Sax. c. 18.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 39
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0627"n="609"/><fwplace="top"type="header">§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.</fw><lb/>
bedurfte nur einer grundsätzlichen Ausdehnung jener Institutionen, um<lb/>
einen Ersatz der peinlichen Strafen zu gewinnen.</p><lb/><p>Auf dem Einflusse der Kirche beruhte es, daſs in den merowingischen<lb/>
Volksrechten des fränkischen Reiches die Lebens- und Leibesstrafen<lb/>
hinter den Buſsen fast völlig verschwanden. Wenn sie trotzdem,<lb/>
namentlieh in Fällen der handhaften That und der Insolvenz, zur An-<lb/>
wendung kamen, so war doch der Geistlichkeit durch das Buſssystem,<lb/>
durch die Lösungstaxen und durch das öffentliche Ausbieten des dem<lb/>
Tode verfallenen Missethäters wenigstens die Möglichkeit gegeben, im<lb/>
einzelnen Falle den Vollzug der peinlichen Strafe auszuschlieſsen.</p><lb/><p>Seit Ausgang der merowingischen Periode wurde der Eifer, den<lb/>
die leitenden kirchlichen Kreise gegen die Blutjustiz entwickelten,<lb/>
merklich schwächer. Er kühlte sich ab, als bei der hohen Geistlich-<lb/>
keit durch die Teilnahme an der Staatsverwaltung das Gefühl der<lb/>
Verantwortlichkeit für das Gedeihen des Gemeinwesens und das Inter-<lb/>
esse an der Friedensbewahrung gestiegen waren. Zur Zeit Karls des<lb/>
Groſsen ist die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen eine<lb/>
andere, als in den Tagen Chlodovechs, Dagoberts, Lantfrids und<lb/>
Odilos. Im Jahre 779 kann sich Karl der Groſse auf das Zeugnis der<lb/>
Bischöfe berufen, daſs die Richter keine Sünde begehen, wenn sie in<lb/>
Ausübung der Rechtspflege Diebe und Räuber an Leib oder Leben<lb/>
strafen <noteplace="foot"n="4">Cap. Haristall. c. 11, I 49.</note>. Sicherlich geschah es nicht gegen den Willen der Hierarchie,<lb/>
als Karl der Groſse in der Capitulatio de partibus Saxoniae und in<lb/>
der Lex Saxonum zum Schutze der Geistlichen und zur gewaltsamen<lb/>
Christianisierung der Sachsen von der Androhung des Todes den aus-<lb/>
giebigsten Gebrauch machte.</p><lb/><p>Eine ähnliche Entwicklung nehmen wir bei den Angelsachsen<lb/>
wahr, bei denen laut dem Zeugnis des Königs Alfred nach der Be-<lb/>
kehrung zum Christentum die Todesstrafe für alle Vergehen — aus-<lb/>
genommen den Verrat des Herrn und den Rückfall — beseitigt worden<lb/>
war <noteplace="foot"n="5">Alfred, Einleitung 49, § 7.</note>, wogegen seit dem zehnten Jahrhundert das Strafrecht strenger<lb/>
wurde, die Todesstrafen sich mehrten und der Begriff der buſslosen<lb/>
That in das angelsächsische Recht eindrang.</p><lb/><p>Abgesehen von dem grundsätzlichen, mit wechselnder Energie ge-<lb/>
führten Kampfe gegen die Lebensverwirkung, setzte die Kirche im<lb/>
fränkischen Reiche durch, daſs es verboten wurde, an Sonntagen pein-<lb/>
liche Strafen zu erkennen <noteplace="foot"n="6">Cap. e canon. excerpta v. J. 813, c. 15, I 174. Syn. Suession. v. J. 853, c. 9,<lb/>
Pertz, LL I 419. Cap. miss. c. 7, a. O. S. 420. Cap. de part. Sax. c. 18.</note>. Soweit sie sich mit den Todes- und<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Binding, Handbuch. II. 1. II: <hirendition="#g">Brunner</hi>, Deutsche Rechtsgesch. II. 39</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[609/0627]
§ 135. Die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen.
bedurfte nur einer grundsätzlichen Ausdehnung jener Institutionen, um
einen Ersatz der peinlichen Strafen zu gewinnen.
Auf dem Einflusse der Kirche beruhte es, daſs in den merowingischen
Volksrechten des fränkischen Reiches die Lebens- und Leibesstrafen
hinter den Buſsen fast völlig verschwanden. Wenn sie trotzdem,
namentlieh in Fällen der handhaften That und der Insolvenz, zur An-
wendung kamen, so war doch der Geistlichkeit durch das Buſssystem,
durch die Lösungstaxen und durch das öffentliche Ausbieten des dem
Tode verfallenen Missethäters wenigstens die Möglichkeit gegeben, im
einzelnen Falle den Vollzug der peinlichen Strafe auszuschlieſsen.
Seit Ausgang der merowingischen Periode wurde der Eifer, den
die leitenden kirchlichen Kreise gegen die Blutjustiz entwickelten,
merklich schwächer. Er kühlte sich ab, als bei der hohen Geistlich-
keit durch die Teilnahme an der Staatsverwaltung das Gefühl der
Verantwortlichkeit für das Gedeihen des Gemeinwesens und das Inter-
esse an der Friedensbewahrung gestiegen waren. Zur Zeit Karls des
Groſsen ist die Stellung der Kirche zu den peinlichen Strafen eine
andere, als in den Tagen Chlodovechs, Dagoberts, Lantfrids und
Odilos. Im Jahre 779 kann sich Karl der Groſse auf das Zeugnis der
Bischöfe berufen, daſs die Richter keine Sünde begehen, wenn sie in
Ausübung der Rechtspflege Diebe und Räuber an Leib oder Leben
strafen 4. Sicherlich geschah es nicht gegen den Willen der Hierarchie,
als Karl der Groſse in der Capitulatio de partibus Saxoniae und in
der Lex Saxonum zum Schutze der Geistlichen und zur gewaltsamen
Christianisierung der Sachsen von der Androhung des Todes den aus-
giebigsten Gebrauch machte.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen wir bei den Angelsachsen
wahr, bei denen laut dem Zeugnis des Königs Alfred nach der Be-
kehrung zum Christentum die Todesstrafe für alle Vergehen — aus-
genommen den Verrat des Herrn und den Rückfall — beseitigt worden
war 5, wogegen seit dem zehnten Jahrhundert das Strafrecht strenger
wurde, die Todesstrafen sich mehrten und der Begriff der buſslosen
That in das angelsächsische Recht eindrang.
Abgesehen von dem grundsätzlichen, mit wechselnder Energie ge-
führten Kampfe gegen die Lebensverwirkung, setzte die Kirche im
fränkischen Reiche durch, daſs es verboten wurde, an Sonntagen pein-
liche Strafen zu erkennen 6. Soweit sie sich mit den Todes- und
4 Cap. Haristall. c. 11, I 49.
5 Alfred, Einleitung 49, § 7.
6 Cap. e canon. excerpta v. J. 813, c. 15, I 174. Syn. Suession. v. J. 853, c. 9,
Pertz, LL I 419. Cap. miss. c. 7, a. O. S. 420. Cap. de part. Sax. c. 18.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 39
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/627>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.