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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 134. Die Leibesstrafen.

Die Verstümmelung kam zur Anwendung als öffentliche Strafe
oder als Racheakt, wenn nämlich der Rächer sich begnügte, den Feind
zu verstümmeln und seinem Schicksale zu überlassen14, oder als
Privatstrafe, die an dem preisgegebenen Missethäter insbesondere dann
vollzogen wurde, wenn die Rechtsordnung dem Verletzten die Tötung
verbot und nur eine verstümmelnde Strafe erlaubte15.

Soweit sie öffentliche Strafe ist, stellt sich die Gliederstrafe
genetisch als eine Abschwächung der Todesstrafe dar. Gleich dem
Rächer konnte auch die Gesamtheit die Tötung des Missethäters
durch Verstümmelung ersetzen. Nach nordischen Rechten hatten in
dieser Beziehung bei gewissen Verbrechen die Dingleute eine arbiträre
Strafgewalt16. Bei den Franken übte in Achtsachen der König das
Recht, die Lebensstrafe durch eine Gliederstrafe zu ersetzen. Doch
hat sich ausserdem für einzelne Missethaten ein System volksrechtlicher
Leibesstrafen ausgebildet und zwar vermutlich schon vor Entstehung
der Lex Salica, da gewisse Arten von Bussen, die dieses Volksrecht
aufweist, aus der Ablösung von Gliederstrafen entstanden sein dürften17.

Die älteren deutschen Volksrechte sind verhältnismässig arm an
verstümmelnden Strafen. Die Lex Salica kennt nur die Entmannung
und auch diese nur bei Unfreien18. Die Volksrechte der Ribuarier
und der Baiern erwähnen Gliederstrafen vorzugsweise bei Knechten,
während sie bei freien Leuten nur angeführt werden, um daneben die
Lösungsbusse zu nennen19. In den karolingischen Kapitularien tauchen
Verstümmelungsstrafen insbesondere für Diebstahl, Meineid und falsches
Zeugnis auf, Delikte, durch die man nach den merowingischen Quellen
eine Busse oder das Leben verwirkte.

Die Gliederstrafe war ablösbar und zwar regelmässig um den Be-
trag der entsprechenden Gliederbusse. Nur ausnahmsweise wurde das
Recht der Ledigung versagt20.


14 Lex Sal. 41, 8.
15 Lex Wisig. III 4, 13 schliesst die Tötung aus, gestattet aber detruncatio und
flagellum. Liu. 121 verbietet auch die sematio.
16 Skanelagen 145, wo es heisst, dass die Dingleute Gewalt haben, mit dem
Diebe zu machen, was sie wollen. Vgl. a. O. 147. Sunesen 76. Valdemars Saell.
Lov 3. 13 (Thorsen S. 62).
17 Siehe unten § 139.
18 Lex Sal. 12, 2; 25, 7; 40.
19 Lex Rib. 59, 3. Lex Baiuw. II 6.
20 So in Cap. Haristall. v. J. 779, c. 10, I 49: de eo, qui periurium fecerit,
nullam redemptionem, nisi manum perdat. Lex Baiuw. App. 3, LL III 337: aut
manus perdat aut oculos (servus); sine signo numquam evadat, quam diliciosus sit
apud dominum suum.
§ 134. Die Leibesstrafen.

Die Verstümmelung kam zur Anwendung als öffentliche Strafe
oder als Racheakt, wenn nämlich der Rächer sich begnügte, den Feind
zu verstümmeln und seinem Schicksale zu überlassen14, oder als
Privatstrafe, die an dem preisgegebenen Missethäter insbesondere dann
vollzogen wurde, wenn die Rechtsordnung dem Verletzten die Tötung
verbot und nur eine verstümmelnde Strafe erlaubte15.

Soweit sie öffentliche Strafe ist, stellt sich die Gliederstrafe
genetisch als eine Abschwächung der Todesstrafe dar. Gleich dem
Rächer konnte auch die Gesamtheit die Tötung des Missethäters
durch Verstümmelung ersetzen. Nach nordischen Rechten hatten in
dieser Beziehung bei gewissen Verbrechen die Dingleute eine arbiträre
Strafgewalt16. Bei den Franken übte in Achtsachen der König das
Recht, die Lebensstrafe durch eine Gliederstrafe zu ersetzen. Doch
hat sich auſserdem für einzelne Missethaten ein System volksrechtlicher
Leibesstrafen ausgebildet und zwar vermutlich schon vor Entstehung
der Lex Salica, da gewisse Arten von Buſsen, die dieses Volksrecht
aufweist, aus der Ablösung von Gliederstrafen entstanden sein dürften17.

Die älteren deutschen Volksrechte sind verhältnismäſsig arm an
verstümmelnden Strafen. Die Lex Salica kennt nur die Entmannung
und auch diese nur bei Unfreien18. Die Volksrechte der Ribuarier
und der Baiern erwähnen Gliederstrafen vorzugsweise bei Knechten,
während sie bei freien Leuten nur angeführt werden, um daneben die
Lösungsbuſse zu nennen19. In den karolingischen Kapitularien tauchen
Verstümmelungsstrafen insbesondere für Diebstahl, Meineid und falsches
Zeugnis auf, Delikte, durch die man nach den merowingischen Quellen
eine Buſse oder das Leben verwirkte.

Die Gliederstrafe war ablösbar und zwar regelmäſsig um den Be-
trag der entsprechenden Gliederbuſse. Nur ausnahmsweise wurde das
Recht der Ledigung versagt20.


14 Lex Sal. 41, 8.
15 Lex Wisig. III 4, 13 schlieſst die Tötung aus, gestattet aber detruncatio und
flagellum. Liu. 121 verbietet auch die sematio.
16 Skanelagen 145, wo es heiſst, daſs die Dingleute Gewalt haben, mit dem
Diebe zu machen, was sie wollen. Vgl. a. O. 147. Sunesen 76. Valdemars Sæll.
Lov 3. 13 (Thorsen S. 62).
17 Siehe unten § 139.
18 Lex Sal. 12, 2; 25, 7; 40.
19 Lex Rib. 59, 3. Lex Baiuw. II 6.
20 So in Cap. Haristall. v. J. 779, c. 10, I 49: de eo, qui periurium fecerit,
nullam redemptionem, nisi manum perdat. Lex Baiuw. App. 3, LL III 337: aut
manus perdat aut oculos (servus); sine signo numquam evadat, quam diliciosus sit
apud dominum suum.
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[604/0622] § 134. Die Leibesstrafen. Die Verstümmelung kam zur Anwendung als öffentliche Strafe oder als Racheakt, wenn nämlich der Rächer sich begnügte, den Feind zu verstümmeln und seinem Schicksale zu überlassen 14, oder als Privatstrafe, die an dem preisgegebenen Missethäter insbesondere dann vollzogen wurde, wenn die Rechtsordnung dem Verletzten die Tötung verbot und nur eine verstümmelnde Strafe erlaubte 15. Soweit sie öffentliche Strafe ist, stellt sich die Gliederstrafe genetisch als eine Abschwächung der Todesstrafe dar. Gleich dem Rächer konnte auch die Gesamtheit die Tötung des Missethäters durch Verstümmelung ersetzen. Nach nordischen Rechten hatten in dieser Beziehung bei gewissen Verbrechen die Dingleute eine arbiträre Strafgewalt 16. Bei den Franken übte in Achtsachen der König das Recht, die Lebensstrafe durch eine Gliederstrafe zu ersetzen. Doch hat sich auſserdem für einzelne Missethaten ein System volksrechtlicher Leibesstrafen ausgebildet und zwar vermutlich schon vor Entstehung der Lex Salica, da gewisse Arten von Buſsen, die dieses Volksrecht aufweist, aus der Ablösung von Gliederstrafen entstanden sein dürften 17. Die älteren deutschen Volksrechte sind verhältnismäſsig arm an verstümmelnden Strafen. Die Lex Salica kennt nur die Entmannung und auch diese nur bei Unfreien 18. Die Volksrechte der Ribuarier und der Baiern erwähnen Gliederstrafen vorzugsweise bei Knechten, während sie bei freien Leuten nur angeführt werden, um daneben die Lösungsbuſse zu nennen 19. In den karolingischen Kapitularien tauchen Verstümmelungsstrafen insbesondere für Diebstahl, Meineid und falsches Zeugnis auf, Delikte, durch die man nach den merowingischen Quellen eine Buſse oder das Leben verwirkte. Die Gliederstrafe war ablösbar und zwar regelmäſsig um den Be- trag der entsprechenden Gliederbuſse. Nur ausnahmsweise wurde das Recht der Ledigung versagt 20. 14 Lex Sal. 41, 8. 15 Lex Wisig. III 4, 13 schlieſst die Tötung aus, gestattet aber detruncatio und flagellum. Liu. 121 verbietet auch die sematio. 16 Skanelagen 145, wo es heiſst, daſs die Dingleute Gewalt haben, mit dem Diebe zu machen, was sie wollen. Vgl. a. O. 147. Sunesen 76. Valdemars Sæll. Lov 3. 13 (Thorsen S. 62). 17 Siehe unten § 139. 18 Lex Sal. 12, 2; 25, 7; 40. 19 Lex Rib. 59, 3. Lex Baiuw. II 6. 20 So in Cap. Haristall. v. J. 779, c. 10, I 49: de eo, qui periurium fecerit, nullam redemptionem, nisi manum perdat. Lex Baiuw. App. 3, LL III 337: aut manus perdat aut oculos (servus); sine signo numquam evadat, quam diliciosus sit apud dominum suum.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/622>, abgerufen am 25.11.2024.