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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 125. Absicht und Ungefähr.
sich in den deutschen die sofortige eidliche Verklarung nur für wenige
Fälle als ein Merkmal des Ungefährwerkes erhalten. In der Regel
durfte der ausserprozessualische Eid durch einen prozessualischen er-
setzt werden, indem man dem Verantwortlichen bei Ungefährwerken,
die als solche beschworen werden mussten, gestattete, auch nach er-
hobener Klage den Mangel der bösen Absicht geltend zu machen und
eidlich zu erhärten 11.

Auch Ungefährwerk musste vergolten werden. Doch war die
Vergeltung, obzwar noch eine strafrechtliche, milder, als wenn die That
absichtlich begangen worden. Im einzelnen gehen die verschiedenen
Rechte weit auseinander. Allenthalben wird das Ungefährwerk
nicht als Friedensbruch angesehen, so dass Rache und Fehde sowie die
Zahlung von Friedensgeld ausgeschlossen sind. Trotzdem ist nach
älterem Rechte der Verantwortliche regelmässig verpflichtet, das zuge-
fügte Übel durch Zahlung des vollen Wergeldes, der vollen Busse zu
vergelten. Aber schon in fränkischer Zeit zeigt sich das Bestreben,
die Ungefährbussen möglichst auf den Schadenersatz einzuschränken.
Diese Einschränkung erfolgt zunächst dadurch, dass die Ungefährbusse
auf die Hälfte, auf zwei oder ein Drittel, kurz auf einen Bruchteil
des vollen Wergeldes oder der vollen Busse herabgesetzt wird. Da
dieser Bruchteil jener Kompositionsquote gleichkommt, die den
Charakter des Schadenersatzes hat, so stellt sich eine derartige Un-
gefährbusse thatsächlich als eine gesetzlich limitierte Entschädigung
dar. Ein noch jüngeres Stadium der Entwicklung ist es, wenn mit-
unter das Recht nicht mehr die den zugefügten Schaden darstellende
Quote der compositio, sondern schlechtweg die Besserung des im kon-
kreten Falle erlittenen Schadens verlangt. Bei gewissen Ungefähr-
werken (siehe § 126) konnte durch Abwälzung der Verantwortlichkeit
die Haftung gemindert, ja auf eine blosse Sachhaftung reduziert werden.

Der Fortschritt, den die Geschichte des Strafrechts in der fränki-
schen Zeit zu verzeichnen hat, zeigt sich in der gesteigerten Geltend-
machung des subjektiven Thatbestandes. Sie äussert sich darin, dass
der Kreis der Verbrechen, für die der dolus begriffliches Merkmal ist,
eine Erweiterung erfährt -- ein Beispiel bietet der wissentliche Mein-
eid -- und dass die Zahl der typischen Ungefährwerke vermehrt wird,
indem sie zugleich eine abstraktere Ausprägung erfahren und durch

11 Form. Turon. 30 zeigt uns noch den Gefährdeeid und den Reinigungseid
nebeneinander. Ein Mann, der einen Räuber in Notwehr getötet, schwört zunächst
selbzwölft einen freiwilligen Gefährdeeid, dann binnen 40 Nächten auf Grund eines
Urteils mit 36 Helfern einen Reinigungseid.
35*

§ 125. Absicht und Ungefähr.
sich in den deutschen die sofortige eidliche Verklarung nur für wenige
Fälle als ein Merkmal des Ungefährwerkes erhalten. In der Regel
durfte der auſserprozessualische Eid durch einen prozessualischen er-
setzt werden, indem man dem Verantwortlichen bei Ungefährwerken,
die als solche beschworen werden muſsten, gestattete, auch nach er-
hobener Klage den Mangel der bösen Absicht geltend zu machen und
eidlich zu erhärten 11.

Auch Ungefährwerk muſste vergolten werden. Doch war die
Vergeltung, obzwar noch eine strafrechtliche, milder, als wenn die That
absichtlich begangen worden. Im einzelnen gehen die verschiedenen
Rechte weit auseinander. Allenthalben wird das Ungefährwerk
nicht als Friedensbruch angesehen, so daſs Rache und Fehde sowie die
Zahlung von Friedensgeld ausgeschlossen sind. Trotzdem ist nach
älterem Rechte der Verantwortliche regelmäſsig verpflichtet, das zuge-
fügte Übel durch Zahlung des vollen Wergeldes, der vollen Buſse zu
vergelten. Aber schon in fränkischer Zeit zeigt sich das Bestreben,
die Ungefährbuſsen möglichst auf den Schadenersatz einzuschränken.
Diese Einschränkung erfolgt zunächst dadurch, daſs die Ungefährbuſse
auf die Hälfte, auf zwei oder ein Drittel, kurz auf einen Bruchteil
des vollen Wergeldes oder der vollen Buſse herabgesetzt wird. Da
dieser Bruchteil jener Kompositionsquote gleichkommt, die den
Charakter des Schadenersatzes hat, so stellt sich eine derartige Un-
gefährbuſse thatsächlich als eine gesetzlich limitierte Entschädigung
dar. Ein noch jüngeres Stadium der Entwicklung ist es, wenn mit-
unter das Recht nicht mehr die den zugefügten Schaden darstellende
Quote der compositio, sondern schlechtweg die Besserung des im kon-
kreten Falle erlittenen Schadens verlangt. Bei gewissen Ungefähr-
werken (siehe § 126) konnte durch Abwälzung der Verantwortlichkeit
die Haftung gemindert, ja auf eine bloſse Sachhaftung reduziert werden.

Der Fortschritt, den die Geschichte des Strafrechts in der fränki-
schen Zeit zu verzeichnen hat, zeigt sich in der gesteigerten Geltend-
machung des subjektiven Thatbestandes. Sie äuſsert sich darin, daſs
der Kreis der Verbrechen, für die der dolus begriffliches Merkmal ist,
eine Erweiterung erfährt — ein Beispiel bietet der wissentliche Mein-
eid — und daſs die Zahl der typischen Ungefährwerke vermehrt wird,
indem sie zugleich eine abstraktere Ausprägung erfahren und durch

11 Form. Turon. 30 zeigt uns noch den Gefährdeeid und den Reinigungseid
nebeneinander. Ein Mann, der einen Räuber in Notwehr getötet, schwört zunächst
selbzwölft einen freiwilligen Gefährdeeid, dann binnen 40 Nächten auf Grund eines
Urteils mit 36 Helfern einen Reinigungseid.
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[547/0565] § 125. Absicht und Ungefähr. sich in den deutschen die sofortige eidliche Verklarung nur für wenige Fälle als ein Merkmal des Ungefährwerkes erhalten. In der Regel durfte der auſserprozessualische Eid durch einen prozessualischen er- setzt werden, indem man dem Verantwortlichen bei Ungefährwerken, die als solche beschworen werden muſsten, gestattete, auch nach er- hobener Klage den Mangel der bösen Absicht geltend zu machen und eidlich zu erhärten 11. Auch Ungefährwerk muſste vergolten werden. Doch war die Vergeltung, obzwar noch eine strafrechtliche, milder, als wenn die That absichtlich begangen worden. Im einzelnen gehen die verschiedenen Rechte weit auseinander. Allenthalben wird das Ungefährwerk nicht als Friedensbruch angesehen, so daſs Rache und Fehde sowie die Zahlung von Friedensgeld ausgeschlossen sind. Trotzdem ist nach älterem Rechte der Verantwortliche regelmäſsig verpflichtet, das zuge- fügte Übel durch Zahlung des vollen Wergeldes, der vollen Buſse zu vergelten. Aber schon in fränkischer Zeit zeigt sich das Bestreben, die Ungefährbuſsen möglichst auf den Schadenersatz einzuschränken. Diese Einschränkung erfolgt zunächst dadurch, daſs die Ungefährbuſse auf die Hälfte, auf zwei oder ein Drittel, kurz auf einen Bruchteil des vollen Wergeldes oder der vollen Buſse herabgesetzt wird. Da dieser Bruchteil jener Kompositionsquote gleichkommt, die den Charakter des Schadenersatzes hat, so stellt sich eine derartige Un- gefährbuſse thatsächlich als eine gesetzlich limitierte Entschädigung dar. Ein noch jüngeres Stadium der Entwicklung ist es, wenn mit- unter das Recht nicht mehr die den zugefügten Schaden darstellende Quote der compositio, sondern schlechtweg die Besserung des im kon- kreten Falle erlittenen Schadens verlangt. Bei gewissen Ungefähr- werken (siehe § 126) konnte durch Abwälzung der Verantwortlichkeit die Haftung gemindert, ja auf eine bloſse Sachhaftung reduziert werden. Der Fortschritt, den die Geschichte des Strafrechts in der fränki- schen Zeit zu verzeichnen hat, zeigt sich in der gesteigerten Geltend- machung des subjektiven Thatbestandes. Sie äuſsert sich darin, daſs der Kreis der Verbrechen, für die der dolus begriffliches Merkmal ist, eine Erweiterung erfährt — ein Beispiel bietet der wissentliche Mein- eid — und daſs die Zahl der typischen Ungefährwerke vermehrt wird, indem sie zugleich eine abstraktere Ausprägung erfahren und durch 11 Form. Turon. 30 zeigt uns noch den Gefährdeeid und den Reinigungseid nebeneinander. Ein Mann, der einen Räuber in Notwehr getötet, schwört zunächst selbzwölft einen freiwilligen Gefährdeeid, dann binnen 40 Nächten auf Grund eines Urteils mit 36 Helfern einen Reinigungseid. 35*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/565>, abgerufen am 25.11.2024.