Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
welcher der Kläger mit ihm das Grundstück besichtigt und das
streitige Gebiet bezeichnet16, eine Rechtshandlung, die uns nachmals
im altfranzösischen und anglo-normannischen Rechte als vue de terre,
visus terrae begegnet.

In der Einlassung kann sich der Beklagte auf die Negation des
Klagvorwurfes beschränken, indem er die rechtswidrige Besitznahme
oder Vorenthaltung leugnet, ohne seinerseits das Grundstück in An-
spruch zu nehmen. Dann muss er es auf alle Fälle dem Kläger über-
lassen, bleibt aber frei von Busse, er müsste denn durch den Ausgang
des Beweisverfahrens der Landnahme überführt werden17.

Will der Beklagte das Grundstück behalten, so reicht dazu
jene Negation nicht aus; vielmehr muss er in der Antwort sein Be-
sitzrecht geltend machen (rem vindicare). Stützt sich der Kläger auf
älteren Besitz, so liegt dem Beklagten ob, die klägerische Behauptung
zu widerlegen18 oder sein Recht durch Angabe der causa possessionis
zu begründen. Er mag sich auf originären Erwerb berufen, indem er
behauptet, das Land als Neubruch eingefangen zu haben19. Schützt er
abgeleiteten Erwerb vor, so erklärt er entweder, das Gut von einem
Dritten erworben oder aber es ererbt zu haben.

Der Beklagte, der sich auf einen Gewährsmann zieht, ist ver-
pflichtet, ihn binnen bestimmter Frist vor Gericht zu stellen20. Er-
scheint der Gewährsmann, um die Gewährschaft zu übernehmen, so
tritt er an Stelle des Beklagten in den Rechtsstreit ein, den er in
eigenem Namen nach Art eines Salmanns durchführt21. Dem Be-

16 Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 26, S. 25, H. 472. Nach der
langobardischen Formularjurisprudenz provociert der Beklagte den visus terrae
durch die Einrede: nescio de quo dicis. Vgl. v. Bethmann-Hollweg V 137,
Anm. 53. Opet, Prozesseinl. S. 108, sieht darin den Beweis, dass die Klage
ohne Ladung erhoben wurde und den Beklagten völlig unerwartet traf (!). Über
den normannischen visus terrae siehe meine Entstehung der Schwurgerichte
S. 173 f.
17 Thevenin Nr. 96, H. 362: promisit ad placitum se iuraturum, ut eo
mandante nullus hominum eamdem villam exspoliarit .. Cod. Cavensis II 166,
Nr. 338: ut ipse Ursus iuraret .., ut taliter in ipsa rebus numquam fecisset.
18 Lex Baiuw. XVII 2: non invasi contra legem nec cum sex solidis con-
ponere debeo nec exire, quia mea opera et labor prior hic est quam tuus.
19 Thevenin Nr. 88, H. 334: manifeste verum est, quod ipsas res ego reti-
neo, set non iniuste, quia de eremo eas tracxi in aprisione. Lex Baiuw. XVII 2.
20 Form. Andegav. 47: sic ab ipsis viris illi fuit denonciatum, ut die illo An-
decavis civetate ipso illo in autericio presentare deberit. Thevenin Nr. 114,
H. 441: iudicium, ut in quadraginta noctes suum auctorem presentare faciat.
21 Der Auctor giebt und empfängt das Beweisgelöbnis. Unterliegt er, so hat
er das Grundstück an den Sieger herauszugeben.
33*

§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
welcher der Kläger mit ihm das Grundstück besichtigt und das
streitige Gebiet bezeichnet16, eine Rechtshandlung, die uns nachmals
im altfranzösischen und anglo-normannischen Rechte als vue de terre,
visus terrae begegnet.

In der Einlassung kann sich der Beklagte auf die Negation des
Klagvorwurfes beschränken, indem er die rechtswidrige Besitznahme
oder Vorenthaltung leugnet, ohne seinerseits das Grundstück in An-
spruch zu nehmen. Dann muſs er es auf alle Fälle dem Kläger über-
lassen, bleibt aber frei von Buſse, er müſste denn durch den Ausgang
des Beweisverfahrens der Landnahme überführt werden17.

Will der Beklagte das Grundstück behalten, so reicht dazu
jene Negation nicht aus; vielmehr muſs er in der Antwort sein Be-
sitzrecht geltend machen (rem vindicare). Stützt sich der Kläger auf
älteren Besitz, so liegt dem Beklagten ob, die klägerische Behauptung
zu widerlegen18 oder sein Recht durch Angabe der causa possessionis
zu begründen. Er mag sich auf originären Erwerb berufen, indem er
behauptet, das Land als Neubruch eingefangen zu haben19. Schützt er
abgeleiteten Erwerb vor, so erklärt er entweder, das Gut von einem
Dritten erworben oder aber es ererbt zu haben.

Der Beklagte, der sich auf einen Gewährsmann zieht, ist ver-
pflichtet, ihn binnen bestimmter Frist vor Gericht zu stellen20. Er-
scheint der Gewährsmann, um die Gewährschaft zu übernehmen, so
tritt er an Stelle des Beklagten in den Rechtsstreit ein, den er in
eigenem Namen nach Art eines Salmanns durchführt21. Dem Be-

16 Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 26, S. 25, H. 472. Nach der
langobardischen Formularjurisprudenz provociert der Beklagte den visus terrae
durch die Einrede: nescio de quo dicis. Vgl. v. Bethmann-Hollweg V 137,
Anm. 53. Opet, Prozeſseinl. S. 108, sieht darin den Beweis, daſs die Klage
ohne Ladung erhoben wurde und den Beklagten völlig unerwartet traf (!). Über
den normannischen visus terrae siehe meine Entstehung der Schwurgerichte
S. 173 f.
17 Thévenin Nr. 96, H. 362: promisit ad placitum se iuraturum, ut eo
mandante nullus hominum eamdem villam exspoliarit .. Cod. Cavensis II 166,
Nr. 338: ut ipse Ursus iuraret .., ut taliter in ipsa rebus numquam fecisset.
18 Lex Baiuw. XVII 2: non invasi contra legem nec cum sex solidis con-
ponere debeo nec exire, quia mea opera et labor prior hic est quam tuus.
19 Thévenin Nr. 88, H. 334: manifeste verum est, quod ipsas res ego reti-
neo, set non iniuste, quia de eremo eas tracxi in aprisione. Lex Baiuw. XVII 2.
20 Form. Andegav. 47: sic ab ipsis viris illi fuit denonciatum, ut die illo An-
decavis civetate ipso illo in autericio presentare deberit. Thévenin Nr. 114,
H. 441: iudicium, ut in quadraginta noctes suum auctorem presentare faciat.
21 Der Auctor giebt und empfängt das Beweisgelöbnis. Unterliegt er, so hat
er das Grundstück an den Sieger herauszugeben.
33*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0533" n="515"/><fw place="top" type="header">§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.</fw><lb/>
welcher der Kläger mit ihm das Grundstück besichtigt und das<lb/>
streitige Gebiet bezeichnet<note place="foot" n="16">Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 26, S. 25, H. 472. Nach der<lb/>
langobardischen Formularjurisprudenz provociert der Beklagte den visus terrae<lb/>
durch die Einrede: nescio de quo dicis. Vgl. v. <hi rendition="#g">Bethmann-Hollweg</hi> V 137,<lb/>
Anm. 53. <hi rendition="#g">Opet</hi>, Proze&#x017F;seinl. S. 108, sieht darin den Beweis, da&#x017F;s die Klage<lb/>
ohne Ladung erhoben wurde und den Beklagten völlig unerwartet traf (!). Über<lb/>
den normannischen visus terrae siehe meine Entstehung der Schwurgerichte<lb/>
S. 173 f.</note>, eine Rechtshandlung, die uns nachmals<lb/>
im altfranzösischen und anglo-normannischen Rechte als vue de terre,<lb/>
visus terrae begegnet.</p><lb/>
              <p>In der Einlassung kann sich der Beklagte auf die Negation des<lb/>
Klagvorwurfes beschränken, indem er die rechtswidrige Besitznahme<lb/>
oder Vorenthaltung leugnet, ohne seinerseits das Grundstück in An-<lb/>
spruch zu nehmen. Dann mu&#x017F;s er es auf alle Fälle dem Kläger über-<lb/>
lassen, bleibt aber frei von Bu&#x017F;se, er mü&#x017F;ste denn durch den Ausgang<lb/>
des Beweisverfahrens der Landnahme überführt werden<note place="foot" n="17">Thévenin Nr. 96, H. 362: promisit ad placitum se iuraturum, ut eo<lb/>
mandante nullus hominum eamdem villam exspoliarit .. Cod. Cavensis II 166,<lb/>
Nr. 338: ut ipse Ursus iuraret .., ut taliter in ipsa rebus numquam fecisset.</note>.</p><lb/>
              <p>Will der Beklagte das Grundstück behalten, so reicht dazu<lb/>
jene Negation nicht aus; vielmehr mu&#x017F;s er in der Antwort sein Be-<lb/>
sitzrecht geltend machen (rem vindicare). Stützt sich der Kläger auf<lb/>
älteren Besitz, so liegt dem Beklagten ob, die klägerische Behauptung<lb/>
zu widerlegen<note place="foot" n="18">Lex Baiuw. XVII 2: non invasi contra legem nec cum sex solidis con-<lb/>
ponere debeo nec exire, quia mea opera et labor prior hic est quam tuus.</note> oder sein Recht durch Angabe der causa possessionis<lb/>
zu begründen. Er mag sich auf originären Erwerb berufen, indem er<lb/>
behauptet, das Land als Neubruch eingefangen zu haben<note place="foot" n="19">Thévenin Nr. 88, H. 334: manifeste verum est, quod ipsas res ego reti-<lb/>
neo, set non iniuste, quia de eremo eas tracxi in aprisione. Lex Baiuw. XVII 2.</note>. Schützt er<lb/>
abgeleiteten Erwerb vor, so erklärt er entweder, das Gut von einem<lb/>
Dritten erworben oder aber es ererbt zu haben.</p><lb/>
              <p>Der Beklagte, der sich auf einen Gewährsmann zieht, ist ver-<lb/>
pflichtet, ihn binnen bestimmter Frist vor Gericht zu stellen<note place="foot" n="20">Form. Andegav. 47: sic ab ipsis viris illi fuit denonciatum, ut die illo An-<lb/>
decavis civetate ipso illo in autericio presentare deberit. Thévenin Nr. 114,<lb/>
H. 441: iudicium, ut in quadraginta noctes suum auctorem presentare faciat.</note>. Er-<lb/>
scheint der Gewährsmann, um die Gewährschaft zu übernehmen, so<lb/>
tritt er an Stelle des Beklagten in den Rechtsstreit ein, den er in<lb/>
eigenem Namen nach Art eines Salmanns durchführt<note place="foot" n="21">Der Auctor giebt und empfängt das Beweisgelöbnis. Unterliegt er, so hat<lb/>
er das Grundstück an den Sieger herauszugeben.</note>. Dem Be-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">33*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[515/0533] § 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften. welcher der Kläger mit ihm das Grundstück besichtigt und das streitige Gebiet bezeichnet 16, eine Rechtshandlung, die uns nachmals im altfranzösischen und anglo-normannischen Rechte als vue de terre, visus terrae begegnet. In der Einlassung kann sich der Beklagte auf die Negation des Klagvorwurfes beschränken, indem er die rechtswidrige Besitznahme oder Vorenthaltung leugnet, ohne seinerseits das Grundstück in An- spruch zu nehmen. Dann muſs er es auf alle Fälle dem Kläger über- lassen, bleibt aber frei von Buſse, er müſste denn durch den Ausgang des Beweisverfahrens der Landnahme überführt werden 17. Will der Beklagte das Grundstück behalten, so reicht dazu jene Negation nicht aus; vielmehr muſs er in der Antwort sein Be- sitzrecht geltend machen (rem vindicare). Stützt sich der Kläger auf älteren Besitz, so liegt dem Beklagten ob, die klägerische Behauptung zu widerlegen 18 oder sein Recht durch Angabe der causa possessionis zu begründen. Er mag sich auf originären Erwerb berufen, indem er behauptet, das Land als Neubruch eingefangen zu haben 19. Schützt er abgeleiteten Erwerb vor, so erklärt er entweder, das Gut von einem Dritten erworben oder aber es ererbt zu haben. Der Beklagte, der sich auf einen Gewährsmann zieht, ist ver- pflichtet, ihn binnen bestimmter Frist vor Gericht zu stellen 20. Er- scheint der Gewährsmann, um die Gewährschaft zu übernehmen, so tritt er an Stelle des Beklagten in den Rechtsstreit ein, den er in eigenem Namen nach Art eines Salmanns durchführt 21. Dem Be- 16 Germer Durand, Cartulaire de Nimes Nr. 26, S. 25, H. 472. Nach der langobardischen Formularjurisprudenz provociert der Beklagte den visus terrae durch die Einrede: nescio de quo dicis. Vgl. v. Bethmann-Hollweg V 137, Anm. 53. Opet, Prozeſseinl. S. 108, sieht darin den Beweis, daſs die Klage ohne Ladung erhoben wurde und den Beklagten völlig unerwartet traf (!). Über den normannischen visus terrae siehe meine Entstehung der Schwurgerichte S. 173 f. 17 Thévenin Nr. 96, H. 362: promisit ad placitum se iuraturum, ut eo mandante nullus hominum eamdem villam exspoliarit .. Cod. Cavensis II 166, Nr. 338: ut ipse Ursus iuraret .., ut taliter in ipsa rebus numquam fecisset. 18 Lex Baiuw. XVII 2: non invasi contra legem nec cum sex solidis con- ponere debeo nec exire, quia mea opera et labor prior hic est quam tuus. 19 Thévenin Nr. 88, H. 334: manifeste verum est, quod ipsas res ego reti- neo, set non iniuste, quia de eremo eas tracxi in aprisione. Lex Baiuw. XVII 2. 20 Form. Andegav. 47: sic ab ipsis viris illi fuit denonciatum, ut die illo An- decavis civetate ipso illo in autericio presentare deberit. Thévenin Nr. 114, H. 441: iudicium, ut in quadraginta noctes suum auctorem presentare faciat. 21 Der Auctor giebt und empfängt das Beweisgelöbnis. Unterliegt er, so hat er das Grundstück an den Sieger herauszugeben. 33*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/533
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/533>, abgerufen am 22.11.2024.