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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 118. Spurfolge und Anefang.
zessualischer Zwang, gegen den Besitzer, beziehungsweise gegen den
Gewährsmann, mit der Diebstahlsklage vorzugehen, lag in diesen
Fällen nicht vor. Mit andern Worten: Die Besitznahme der eigenen
Sache im Weg erlaubter Selbsthilfe galt nicht für eine Form der Ein-
leitung des Rechtsstreites. Vielmehr hing es von der Sachlage des
einzelnen Falles ab, ob der Spurfolger es wagen durfte, das Gerüfte zu
erheben und den Besitzer als handhaften Dieb zu behandeln, oder
etwa gegen ihn, eventuell gegen den Gewährsmann, mit einer Dieb-
stahlsklage vorzugehen.

Anders gestaltet sich das Verfahren, wenn der Bestohlene die
Sache ohne Spurfolge oder wenn er sie nach Ablauf der gesetz-
lichen Frist im Besitze eines Dritten findet. Dann darf er die Sache
nicht an sich nehmen, sondern es greift ein besonderer Rechtsgang
Platz, der damit beginnt, dass der Bestohlene die Sache in rechts-
förmlicher Weise anfasst. Diese Handlung heisst ahd. anafangjan 17 oder
furifangon 18, ags. befon, aetfon, aetbefon 19, forefong 20; jüngere nieder-
ländische und sächsische Quellen nennen sie aenfang, anefang (ein
Wort, das in der germanistischen Litteratur das Bürgerrecht erworben
hat), oberdeutsche furfang 21, verfang 22, verfahen, verfangen 23. Ein alt-
bairisches Rechtsdenkmal bietet dafür das Substantivum hantalod 24.
Die fränkische versio latina bezeichnet den Anefang ursprünglich als
rem in tertiam manum mittere; doch ist schon im sechsten Jahr-
hundert dafür das Wort intertiare technisch geworden. Dieser Ausdruck,
dessen Deutung streitig ist 25, erklärt sich aus der Tendenz des Ane-

Hand, nämlich zur Hand eines Treuhänders, wegnehmen. Ich fasse agramire als
geloben. Die Wendung res agramire entspricht dem se agramire oben S. 340
Anm. 50. Per tercia manu steht statt per terciam manum, wie die Emendata
liest, der ein Missverständnis in diesem Punkte schwerlich zuzutrauen ist. Die
tercia manus ist die Hand eines Bürgen.
17 Die Glosse in LL V 277 zu Lex Rib. 33, 2 giebt interciavit mit anafan-
geda wieder.
18 Graff, Sprachsch. III 414.
19 Schmid, Ges. d. Ags. S. 526.
20 Ine 53. 72. 75 in den Überschriften.
21 Augsburger Stadtrecht, herausgeg. von Christian Meyer, Art. 132, S. 217.
Vgl. Wiener Neustädter Stadtrecht, herausgeg. von Winter, c. 94. Furfangbedeutet
auch eine nach jüngerem Rechte dem Richter zu zahlende Fürfangsgebühr. Ebenso
forefang bei den Angelsachsen. Vgl. Osenbrüggen, Studien S. 200. Schmel-
ler
, WB I 730. Schmid, Ges. d. Ags. S. 526.
22 Argum. Wiener Weichbildbuch, herausgeg. von Schuster, Art. 75. 76.
23 Augsburger Stadtrecht Art. 34, § 3. 4, S. 97. Wiener Weichbildbuch
Art. 75. 76. Niederöster. Weistümer I 578, 36; 613.
24 Decreta Tassil. Niuh. c. 13.
25 Manche erklären ihn daraus, dass die Sache einem Dritten als Treuhänder

§ 118. Spurfolge und Anefang.
zessualischer Zwang, gegen den Besitzer, beziehungsweise gegen den
Gewährsmann, mit der Diebstahlsklage vorzugehen, lag in diesen
Fällen nicht vor. Mit andern Worten: Die Besitznahme der eigenen
Sache im Weg erlaubter Selbsthilfe galt nicht für eine Form der Ein-
leitung des Rechtsstreites. Vielmehr hing es von der Sachlage des
einzelnen Falles ab, ob der Spurfolger es wagen durfte, das Gerüfte zu
erheben und den Besitzer als handhaften Dieb zu behandeln, oder
etwa gegen ihn, eventuell gegen den Gewährsmann, mit einer Dieb-
stahlsklage vorzugehen.

Anders gestaltet sich das Verfahren, wenn der Bestohlene die
Sache ohne Spurfolge oder wenn er sie nach Ablauf der gesetz-
lichen Frist im Besitze eines Dritten findet. Dann darf er die Sache
nicht an sich nehmen, sondern es greift ein besonderer Rechtsgang
Platz, der damit beginnt, daſs der Bestohlene die Sache in rechts-
förmlicher Weise anfaſst. Diese Handlung heiſst ahd. anafangjan 17 oder
furifangôn 18, ags. befón, ætfón, ætbefón 19, forefong 20; jüngere nieder-
ländische und sächsische Quellen nennen sie aenfang, anefang (ein
Wort, das in der germanistischen Litteratur das Bürgerrecht erworben
hat), oberdeutsche furfang 21, verfang 22, verfahen, verfangen 23. Ein alt-
bairisches Rechtsdenkmal bietet dafür das Substantivum hantalôd 24.
Die fränkische versio latina bezeichnet den Anefang ursprünglich als
rem in tertiam manum mittere; doch ist schon im sechsten Jahr-
hundert dafür das Wort intertiare technisch geworden. Dieser Ausdruck,
dessen Deutung streitig ist 25, erklärt sich aus der Tendenz des Ane-

Hand, nämlich zur Hand eines Treuhänders, wegnehmen. Ich fasse agramire als
geloben. Die Wendung res agramire entspricht dem se agramire oben S. 340
Anm. 50. Per tercia manu steht statt per terciam manum, wie die Emendata
liest, der ein Miſsverständnis in diesem Punkte schwerlich zuzutrauen ist. Die
tercia manus ist die Hand eines Bürgen.
17 Die Glosse in LL V 277 zu Lex Rib. 33, 2 giebt interciavit mit anafan-
geda wieder.
18 Graff, Sprachsch. III 414.
19 Schmid, Ges. d. Ags. S. 526.
20 Ine 53. 72. 75 in den Überschriften.
21 Augsburger Stadtrecht, herausgeg. von Christian Meyer, Art. 132, S. 217.
Vgl. Wiener Neustädter Stadtrecht, herausgeg. von Winter, c. 94. Furfangbedeutet
auch eine nach jüngerem Rechte dem Richter zu zahlende Fürfangsgebühr. Ebenso
forefang bei den Angelsachsen. Vgl. Osenbrüggen, Studien S. 200. Schmel-
ler
, WB I 730. Schmid, Ges. d. Ags. S. 526.
22 Argum. Wiener Weichbildbuch, herausgeg. von Schuster, Art. 75. 76.
23 Augsburger Stadtrecht Art. 34, § 3. 4, S. 97. Wiener Weichbildbuch
Art. 75. 76. Niederöster. Weistümer I 578, 36; 613.
24 Decreta Tassil. Niuh. c. 13.
25 Manche erklären ihn daraus, daſs die Sache einem Dritten als Treuhänder
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[498/0516] § 118. Spurfolge und Anefang. zessualischer Zwang, gegen den Besitzer, beziehungsweise gegen den Gewährsmann, mit der Diebstahlsklage vorzugehen, lag in diesen Fällen nicht vor. Mit andern Worten: Die Besitznahme der eigenen Sache im Weg erlaubter Selbsthilfe galt nicht für eine Form der Ein- leitung des Rechtsstreites. Vielmehr hing es von der Sachlage des einzelnen Falles ab, ob der Spurfolger es wagen durfte, das Gerüfte zu erheben und den Besitzer als handhaften Dieb zu behandeln, oder etwa gegen ihn, eventuell gegen den Gewährsmann, mit einer Dieb- stahlsklage vorzugehen. Anders gestaltet sich das Verfahren, wenn der Bestohlene die Sache ohne Spurfolge oder wenn er sie nach Ablauf der gesetz- lichen Frist im Besitze eines Dritten findet. Dann darf er die Sache nicht an sich nehmen, sondern es greift ein besonderer Rechtsgang Platz, der damit beginnt, daſs der Bestohlene die Sache in rechts- förmlicher Weise anfaſst. Diese Handlung heiſst ahd. anafangjan 17 oder furifangôn 18, ags. befón, ætfón, ætbefón 19, forefong 20; jüngere nieder- ländische und sächsische Quellen nennen sie aenfang, anefang (ein Wort, das in der germanistischen Litteratur das Bürgerrecht erworben hat), oberdeutsche furfang 21, verfang 22, verfahen, verfangen 23. Ein alt- bairisches Rechtsdenkmal bietet dafür das Substantivum hantalôd 24. Die fränkische versio latina bezeichnet den Anefang ursprünglich als rem in tertiam manum mittere; doch ist schon im sechsten Jahr- hundert dafür das Wort intertiare technisch geworden. Dieser Ausdruck, dessen Deutung streitig ist 25, erklärt sich aus der Tendenz des Ane- 16 17 Die Glosse in LL V 277 zu Lex Rib. 33, 2 giebt interciavit mit anafan- geda wieder. 18 Graff, Sprachsch. III 414. 19 Schmid, Ges. d. Ags. S. 526. 20 Ine 53. 72. 75 in den Überschriften. 21 Augsburger Stadtrecht, herausgeg. von Christian Meyer, Art. 132, S. 217. Vgl. Wiener Neustädter Stadtrecht, herausgeg. von Winter, c. 94. Furfangbedeutet auch eine nach jüngerem Rechte dem Richter zu zahlende Fürfangsgebühr. Ebenso forefang bei den Angelsachsen. Vgl. Osenbrüggen, Studien S. 200. Schmel- ler, WB I 730. Schmid, Ges. d. Ags. S. 526. 22 Argum. Wiener Weichbildbuch, herausgeg. von Schuster, Art. 75. 76. 23 Augsburger Stadtrecht Art. 34, § 3. 4, S. 97. Wiener Weichbildbuch Art. 75. 76. Niederöster. Weistümer I 578, 36; 613. 24 Decreta Tassil. Niuh. c. 13. 25 Manche erklären ihn daraus, daſs die Sache einem Dritten als Treuhänder 16 Hand, nämlich zur Hand eines Treuhänders, wegnehmen. Ich fasse agramire als geloben. Die Wendung res agramire entspricht dem se agramire oben S. 340 Anm. 50. Per tercia manu steht statt per terciam manum, wie die Emendata liest, der ein Miſsverständnis in diesem Punkte schwerlich zuzutrauen ist. Die tercia manus ist die Hand eines Bürgen.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/516>, abgerufen am 22.11.2024.