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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.
Kapitular setzt als Busse der Meinrüge bei Geistlichen den doppelten
Königsbann, bei Laien das Wergeld 24. Die Verfolgung der Mein-
rüge tritt von Amtswegen ein. Der Beschuldigte muss sich durch
Gottesurteil reinigen 25.

Die Fragegewalt, die der Anwendung des Rügeverfahrens zu
Grunde liegt, war in der Kompetenz des ordentlichen Richters nicht
enthalten, sondern setzte königliche Vollmacht voraus 26. Solche haben
die ordentlichen Missi des Königs wohl allgemein besessen 27. In
Italien waren auch die Grafen vom König bevollmächtigt und beauf-
tragt, Rügegerichte zu veranstalten 28. Nachmals erscheint die Frage-
gewalt vielfach als Vorrecht des Landesherrn 29. Ständige Rügegerichte
waren in fränkischer Zeit noch nicht vorhanden. Ebensowenig gab es
ständige Rügegeschworene. Man scheint vielmehr nur von Zeit zu
Zeit nicht ohne Kampf gegen das Widerstreben des Volkes, bei dem
die Einrichtung unbeliebt war, Rügegerichte angeordnet zu haben,
wenn die Zahl der schädlichen Leute sich in bedenklicher Weise ver-
mehrt hatte und sich ein dringendes Bedürfnis einstellte, das Land
davon zu säubern.

Seit der Mitte des neunten Jahrhunderts drang das Rügeverfahren
in das Verfahren der kirchlichen Sendgerichte des fränkischen Reiches
ein 30. Synodalschlüsse und die weltliche Gesetzgebung verpflichteten
den Bischof, seine Diöcese zu bereisen, bestimmte Verbrechen zu er-
forschen und mit kirchlichen Strafen zu ahnden. Der Graf sollte ihn
begleiten und unterstützen 31. Aus der Mitwirkung der weltlichen

24 Cap. Pipp. 800--810 (?), c. 4, I 208. Vgl. oben S. 320, Anm. 28.
25 Durch Kreuz- oder Kampfordal nach Cap. cit. I 208, durch glühendes Eisen
nach dem Sendrecht der Mainwenden.
26 Cap. Pipp. 800--810 (?), c. 3, I 208: et placuit nobis, ut quiscumque de
fidelibus nostris hoc actum a nobis iussum habuerit ad inquirendum per regnum
nostrum ...
27 Conv. Silvac. v. J. 853, c. 4, Pertz, LL I 424: et per sacramentum hoc
missi illorum firmare faciant, sicut tempore antecessorum illorum consuetudo fuit.
Der Erzbischof von Chur erhielt die Fragegewalt durch ein Privileg Konrads I.
v. J. 912, Dipl. regum Germ. I 12, Nr. 11. Jener hatte sich beschwert, quod
multae negligentiae ac violentiae in suo episcopatu fierent, quae sine regali adiutorio
corrigere nequivisset. Nach Beratung mit den Grossen giebt ihm Konrad I. po-
testatem ac licentiam secundum morem ceterorum praesulum latentia quaeque sacra-
mentis populi investigare.
28 Cap. Pipp. 782--786, c. 8, I 192.
29 So ist in Österreich die sogenannte Landfrage, in Flandern die stille
Wahrheit ein Recht des Landesherrn.
30 Dove, Z. f. KR IV 30 f.
31 Siehe oben S. 321. Dove, Z. f. KR IV 22, Anm. 15 ff. Hinschius,
Kirchenrecht IV 746. 798. 830 ff. 842.

§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.
Kapitular setzt als Buſse der Meinrüge bei Geistlichen den doppelten
Königsbann, bei Laien das Wergeld 24. Die Verfolgung der Mein-
rüge tritt von Amtswegen ein. Der Beschuldigte muſs sich durch
Gottesurteil reinigen 25.

Die Fragegewalt, die der Anwendung des Rügeverfahrens zu
Grunde liegt, war in der Kompetenz des ordentlichen Richters nicht
enthalten, sondern setzte königliche Vollmacht voraus 26. Solche haben
die ordentlichen Missi des Königs wohl allgemein besessen 27. In
Italien waren auch die Grafen vom König bevollmächtigt und beauf-
tragt, Rügegerichte zu veranstalten 28. Nachmals erscheint die Frage-
gewalt vielfach als Vorrecht des Landesherrn 29. Ständige Rügegerichte
waren in fränkischer Zeit noch nicht vorhanden. Ebensowenig gab es
ständige Rügegeschworene. Man scheint vielmehr nur von Zeit zu
Zeit nicht ohne Kampf gegen das Widerstreben des Volkes, bei dem
die Einrichtung unbeliebt war, Rügegerichte angeordnet zu haben,
wenn die Zahl der schädlichen Leute sich in bedenklicher Weise ver-
mehrt hatte und sich ein dringendes Bedürfnis einstellte, das Land
davon zu säubern.

Seit der Mitte des neunten Jahrhunderts drang das Rügeverfahren
in das Verfahren der kirchlichen Sendgerichte des fränkischen Reiches
ein 30. Synodalschlüsse und die weltliche Gesetzgebung verpflichteten
den Bischof, seine Diöcese zu bereisen, bestimmte Verbrechen zu er-
forschen und mit kirchlichen Strafen zu ahnden. Der Graf sollte ihn
begleiten und unterstützen 31. Aus der Mitwirkung der weltlichen

24 Cap. Pipp. 800—810 (?), c. 4, I 208. Vgl. oben S. 320, Anm. 28.
25 Durch Kreuz- oder Kampfordal nach Cap. cit. I 208, durch glühendes Eisen
nach dem Sendrecht der Mainwenden.
26 Cap. Pipp. 800—810 (?), c. 3, I 208: et placuit nobis, ut quiscumque de
fidelibus nostris hoc actum a nobis iussum habuerit ad inquirendum per regnum
nostrum …
27 Conv. Silvac. v. J. 853, c. 4, Pertz, LL I 424: et per sacramentum hoc
missi illorum firmare faciant, sicut tempore antecessorum illorum consuetudo fuit.
Der Erzbischof von Chur erhielt die Fragegewalt durch ein Privileg Konrads I.
v. J. 912, Dipl. regum Germ. I 12, Nr. 11. Jener hatte sich beschwert, quod
multae negligentiae ac violentiae in suo episcopatu fierent, quae sine regali adiutorio
corrigere nequivisset. Nach Beratung mit den Groſsen giebt ihm Konrad I. po-
testatem ac licentiam secundum morem ceterorum praesulum latentia quaeque sacra-
mentis populi investigare.
28 Cap. Pipp. 782—786, c. 8, I 192.
29 So ist in Österreich die sogenannte Landfrage, in Flandern die stille
Wahrheit ein Recht des Landesherrn.
30 Dove, Z. f. KR IV 30 f.
31 Siehe oben S. 321. Dove, Z. f. KR IV 22, Anm. 15 ff. Hinschius,
Kirchenrecht IV 746. 798. 830 ff. 842.
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[493/0511] § 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren. Kapitular setzt als Buſse der Meinrüge bei Geistlichen den doppelten Königsbann, bei Laien das Wergeld 24. Die Verfolgung der Mein- rüge tritt von Amtswegen ein. Der Beschuldigte muſs sich durch Gottesurteil reinigen 25. Die Fragegewalt, die der Anwendung des Rügeverfahrens zu Grunde liegt, war in der Kompetenz des ordentlichen Richters nicht enthalten, sondern setzte königliche Vollmacht voraus 26. Solche haben die ordentlichen Missi des Königs wohl allgemein besessen 27. In Italien waren auch die Grafen vom König bevollmächtigt und beauf- tragt, Rügegerichte zu veranstalten 28. Nachmals erscheint die Frage- gewalt vielfach als Vorrecht des Landesherrn 29. Ständige Rügegerichte waren in fränkischer Zeit noch nicht vorhanden. Ebensowenig gab es ständige Rügegeschworene. Man scheint vielmehr nur von Zeit zu Zeit nicht ohne Kampf gegen das Widerstreben des Volkes, bei dem die Einrichtung unbeliebt war, Rügegerichte angeordnet zu haben, wenn die Zahl der schädlichen Leute sich in bedenklicher Weise ver- mehrt hatte und sich ein dringendes Bedürfnis einstellte, das Land davon zu säubern. Seit der Mitte des neunten Jahrhunderts drang das Rügeverfahren in das Verfahren der kirchlichen Sendgerichte des fränkischen Reiches ein 30. Synodalschlüsse und die weltliche Gesetzgebung verpflichteten den Bischof, seine Diöcese zu bereisen, bestimmte Verbrechen zu er- forschen und mit kirchlichen Strafen zu ahnden. Der Graf sollte ihn begleiten und unterstützen 31. Aus der Mitwirkung der weltlichen 24 Cap. Pipp. 800—810 (?), c. 4, I 208. Vgl. oben S. 320, Anm. 28. 25 Durch Kreuz- oder Kampfordal nach Cap. cit. I 208, durch glühendes Eisen nach dem Sendrecht der Mainwenden. 26 Cap. Pipp. 800—810 (?), c. 3, I 208: et placuit nobis, ut quiscumque de fidelibus nostris hoc actum a nobis iussum habuerit ad inquirendum per regnum nostrum … 27 Conv. Silvac. v. J. 853, c. 4, Pertz, LL I 424: et per sacramentum hoc missi illorum firmare faciant, sicut tempore antecessorum illorum consuetudo fuit. Der Erzbischof von Chur erhielt die Fragegewalt durch ein Privileg Konrads I. v. J. 912, Dipl. regum Germ. I 12, Nr. 11. Jener hatte sich beschwert, quod multae negligentiae ac violentiae in suo episcopatu fierent, quae sine regali adiutorio corrigere nequivisset. Nach Beratung mit den Groſsen giebt ihm Konrad I. po- testatem ac licentiam secundum morem ceterorum praesulum latentia quaeque sacra- mentis populi investigare. 28 Cap. Pipp. 782—786, c. 8, I 192. 29 So ist in Österreich die sogenannte Landfrage, in Flandern die stille Wahrheit ein Recht des Landesherrn. 30 Dove, Z. f. KR IV 30 f. 31 Siehe oben S. 321. Dove, Z. f. KR IV 22, Anm. 15 ff. Hinschius, Kirchenrecht IV 746. 798. 830 ff. 842.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/511>, abgerufen am 22.11.2024.