Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
bezeichnet es als hream 4, die anglo-normannische als hutesium, hue-
sium 5. Ausrufungen, die als Gerüfte üblich waren, überliefern uns
zwar erst jüngere Quellen. Doch reichen sie zum Teil in höchstes
Altertum zurück. An die Nachbarn gerichtet, die herbeigerufen wer-
den, haben manche die Bedeutung: kommt heraus, kommt hierher!
so das niederdeutsche tiodaute, das friesische tianaut, das hochdeutsche
zetar, zeter, wovon der Ausdruck Zetergeschrei herstammt, das fran-
zösisch-normannische haro, harou, hare, hareu 6. Diesem würde latei-
nisch huc entsprechen, wovon das mittellateinische huccus, Ruf, das
altfranzösische hucher, rufen, gebildet ist 7. Auf ein altfränkisches
hauz, foras, geht vielleicht das altfranzösische und anglo-normannische
hus, hue zurück 8, das aber auch Naturlaut sein könnte. Andere For-
men des Gerüftes sind der besonderen Veranlassung entlehnt; so dibio,
mordio, feuerio, feindio. Hilfe begehren die Interjektionen hilfio,
wapenio, wafenio, heilalle, wovon das Gerüfte auch Waffenruf, Heil-
allgeschrei heisst 9.

Das Verfahren um handhafte That ist ein Verfahren gegen einen
Friedlosen. War die That handhaft und durch Gerüfte verlautbart,
so bedurfte es nicht erst einer Friedloslegung. Der Thäter hatte sich

4 Schmid, Ges. der Ags. S. 613. Ahd. entspräche hrom, Geschrei, Ruhm.
Schade, WB S. 425.
5 Vgl. schwedisch huta, schreien. Diefenbach, Etym. WB II 510 ff.
6 All diese Interjektionen vertragen nur einfache Erklärungen. Tiodaute ist
wörtlich: zieht heraus (altsächsisch tiohad auta), Schade, WB S. 939. Zeter
lautete ursprünglich ziehet har, Schade, WB S. 1254. Haro, in der Champagne
hare, bedeutet hierher und stammt von ahd. hara, Diez, WB II c s. h. v. Schade,
WB. S. 372. Das friesische Gerüfte hiess tianutroft, was Richthofen, WB
S. 1085, aus dem in Jurisprudentia frisica II 170 überlieferten tie auta zieht heraus
erklärt. Geradezu unglaublich ist, was übel angebrachte Gelehrsamkeit in jene
schlichten Rufe hineingeheimnisst hat. Über die ältere Litteratur siehe Dreyer,
Nebenstunden S. 79 ff. Petersen sucht a. O. mythologische Beziehungen zu ent-
decken. Die wunderlichen Erklärungen, die das normannische Gerüfte haro hervor-
gerufen hat, verzeichnet Glasson, der aber selbst, auf etymologischem Gebiete
völlig steuerlos, seine schlimmsten Vorgänger überbietet, indem er haro mit dem
harahus der Lex Ribuaria, mit ahd. haren schreien, mit ags. hream und mit dem
bairischen hraopant in Verbindung bringt.
7 Form. Turon. 30: homines, qui ad ipsos huccos cucurrerunt, quando iam
dictus homo ibidem interfectus fuit. Über hucher Diez a. O. s. h. v.
8 Hutz rief der sterbende Ludwig I. in seiner Todesangst, quod significat foras
nach Thegan MG SS II 648. Vgl. den Lorscher Bienensegen: kirst, imbi ist
hauze, und dazu Scherers Anmerkung in seinen und Müllenhoffs Denkmälern.
Über friesisch haut für aut Rh. WB S. 833, 1117. Über hus, uz Du Cange (Hen-
schel) III 724 s. v. huesium.
9 Über die Pflicht dem Gerüfte zu folgen siehe oben S. 227.

§ 116. Das Verfahren um handhafte That.
bezeichnet es als hréam 4, die anglo-normannische als hutesium, hue-
sium 5. Ausrufungen, die als Gerüfte üblich waren, überliefern uns
zwar erst jüngere Quellen. Doch reichen sie zum Teil in höchstes
Altertum zurück. An die Nachbarn gerichtet, die herbeigerufen wer-
den, haben manche die Bedeutung: kommt heraus, kommt hierher!
so das niederdeutsche tiodûte, das friesische tianût, das hochdeutsche
zêtar, zêter, wovon der Ausdruck Zetergeschrei herstammt, das fran-
zösisch-normannische haro, harou, hare, hareu 6. Diesem würde latei-
nisch huc entsprechen, wovon das mittellateinische huccus, Ruf, das
altfranzösische hucher, rufen, gebildet ist 7. Auf ein altfränkisches
hûz, foras, geht vielleicht das altfranzösische und anglo-normannische
hus, hue zurück 8, das aber auch Naturlaut sein könnte. Andere For-
men des Gerüftes sind der besonderen Veranlassung entlehnt; so dibio,
mordio, feuerio, feindio. Hilfe begehren die Interjektionen hilfio,
wapenio, wafenio, heilalle, wovon das Gerüfte auch Waffenruf, Heil-
allgeschrei heiſst 9.

Das Verfahren um handhafte That ist ein Verfahren gegen einen
Friedlosen. War die That handhaft und durch Gerüfte verlautbart,
so bedurfte es nicht erst einer Friedloslegung. Der Thäter hatte sich

4 Schmid, Ges. der Ags. S. 613. Ahd. entspräche hrôm, Geschrei, Ruhm.
Schade, WB S. 425.
5 Vgl. schwedisch huta, schreien. Diefenbach, Etym. WB II 510 ff.
6 All diese Interjektionen vertragen nur einfache Erklärungen. Tiodûte ist
wörtlich: zieht heraus (altsächsisch tiohad ûta), Schade, WB S. 939. Zêter
lautete ursprünglich ziehet har, Schade, WB S. 1254. Haro, in der Champagne
hare, bedeutet hierher und stammt von ahd. hara, Diez, WB II c s. h. v. Schade,
WB. S. 372. Das friesische Gerüfte hieſs tianutroft, was Richthofen, WB
S. 1085, aus dem in Jurisprudentia frisica II 170 überlieferten tie ûta zieht heraus
erklärt. Geradezu unglaublich ist, was übel angebrachte Gelehrsamkeit in jene
schlichten Rufe hineingeheimniſst hat. Über die ältere Litteratur siehe Dreyer,
Nebenstunden S. 79 ff. Petersen sucht a. O. mythologische Beziehungen zu ent-
decken. Die wunderlichen Erklärungen, die das normannische Gerüfte haro hervor-
gerufen hat, verzeichnet Glasson, der aber selbst, auf etymologischem Gebiete
völlig steuerlos, seine schlimmsten Vorgänger überbietet, indem er haro mit dem
harahus der Lex Ribuaria, mit ahd. harên schreien, mit ags. hréam und mit dem
bairischen hrâopant in Verbindung bringt.
7 Form. Turon. 30: homines, qui ad ipsos huccos cucurrerunt, quando iam
dictus homo ibidem interfectus fuit. Über hucher Diez a. O. s. h. v.
8 Hutz rief der sterbende Ludwig I. in seiner Todesangst, quod significat foras
nach Thegan MG SS II 648. Vgl. den Lorscher Bienensegen: kirst, imbi ist
hûze, und dazu Scherers Anmerkung in seinen und Müllenhoffs Denkmälern.
Über friesisch hût für ût Rh. WB S. 833, 1117. Über hus, uz Du Cange (Hen-
schel) III 724 s. v. huesium.
9 Über die Pflicht dem Gerüfte zu folgen siehe oben S. 227.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0500" n="482"/><fw place="top" type="header">§ 116. Das Verfahren um handhafte That.</fw><lb/>
bezeichnet es als hréam <note place="foot" n="4"><hi rendition="#g">Schmid</hi>, Ges. der Ags. S. 613. Ahd. entspräche hrôm, Geschrei, Ruhm.<lb/><hi rendition="#g">Schade</hi>, WB S. 425.</note>, die anglo-normannische als hutesium, hue-<lb/>
sium <note place="foot" n="5">Vgl. schwedisch huta, schreien. <hi rendition="#g">Diefenbach</hi>, Etym. WB II 510 ff.</note>. Ausrufungen, die als Gerüfte üblich waren, überliefern uns<lb/>
zwar erst jüngere Quellen. Doch reichen sie zum Teil in höchstes<lb/>
Altertum zurück. An die Nachbarn gerichtet, die herbeigerufen wer-<lb/>
den, haben manche die Bedeutung: kommt heraus, kommt hierher!<lb/>
so das niederdeutsche tiodûte, das friesische tianût, das hochdeutsche<lb/>
zêtar, zêter, wovon der Ausdruck Zetergeschrei herstammt, das fran-<lb/>
zösisch-normannische haro, harou, hare, hareu <note place="foot" n="6">All diese Interjektionen vertragen nur einfache Erklärungen. Tiodûte ist<lb/>
wörtlich: zieht heraus (altsächsisch tiohad ûta), <hi rendition="#g">Schade</hi>, WB S. 939. Zêter<lb/>
lautete ursprünglich ziehet har, <hi rendition="#g">Schade</hi>, WB S. 1254. Haro, in der Champagne<lb/>
hare, bedeutet hierher und stammt von ahd. hara, <hi rendition="#g">Diez</hi>, WB II c s. h. v. <hi rendition="#g">Schade</hi>,<lb/>
WB. S. 372. Das friesische Gerüfte hie&#x017F;s tianutroft, was <hi rendition="#g">Richthofen</hi>, WB<lb/>
S. 1085, aus dem in Jurisprudentia frisica II 170 überlieferten tie ûta zieht heraus<lb/>
erklärt. Geradezu unglaublich ist, was übel angebrachte Gelehrsamkeit in jene<lb/>
schlichten Rufe hineingeheimni&#x017F;st hat. Über die ältere Litteratur siehe <hi rendition="#g">Dreyer</hi>,<lb/>
Nebenstunden S. 79 ff. <hi rendition="#g">Petersen</hi> sucht a. O. mythologische Beziehungen zu ent-<lb/>
decken. Die wunderlichen Erklärungen, die das normannische Gerüfte haro hervor-<lb/>
gerufen hat, verzeichnet <hi rendition="#g">Glasson</hi>, der aber selbst, auf etymologischem Gebiete<lb/>
völlig steuerlos, seine schlimmsten Vorgänger überbietet, indem er haro mit dem<lb/>
harahus der Lex Ribuaria, mit ahd. harên schreien, mit ags. hréam und mit dem<lb/>
bairischen hrâopant in Verbindung bringt.</note>. Diesem würde latei-<lb/>
nisch huc entsprechen, wovon das mittellateinische huccus, Ruf, das<lb/>
altfranzösische hucher, rufen, gebildet ist <note place="foot" n="7">Form. Turon. 30: homines, qui ad ipsos huccos cucurrerunt, quando iam<lb/>
dictus homo ibidem interfectus fuit. Über hucher <hi rendition="#g">Diez</hi> a. O. s. h. v.</note>. Auf ein altfränkisches<lb/>
hûz, foras, geht vielleicht das altfranzösische und anglo-normannische<lb/>
hus, hue zurück <note place="foot" n="8">Hutz rief der sterbende Ludwig I. in seiner Todesangst, quod significat foras<lb/>
nach Thegan MG SS II 648. Vgl. den Lorscher Bienensegen: kirst, imbi ist<lb/>
hûze, und dazu <hi rendition="#g">Scherers</hi> Anmerkung in seinen und Müllenhoffs Denkmälern.<lb/>
Über friesisch hût für ût Rh. WB S. 833, 1117. Über hus, uz <hi rendition="#g">Du Cange</hi> (Hen-<lb/>
schel) III 724 s. v. huesium.</note>, das aber auch Naturlaut sein könnte. Andere For-<lb/>
men des Gerüftes sind der besonderen Veranlassung entlehnt; so dibio,<lb/>
mordio, feuerio, feindio. Hilfe begehren die Interjektionen hilfio,<lb/>
wapenio, wafenio, heilalle, wovon das Gerüfte auch Waffenruf, Heil-<lb/>
allgeschrei hei&#x017F;st <note place="foot" n="9">Über die Pflicht dem Gerüfte zu folgen siehe oben S. 227.</note>.</p><lb/>
              <p>Das Verfahren um handhafte That ist ein Verfahren gegen einen<lb/>
Friedlosen. War die That handhaft und durch Gerüfte verlautbart,<lb/>
so bedurfte es nicht erst einer Friedloslegung. Der Thäter hatte sich<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0500] § 116. Das Verfahren um handhafte That. bezeichnet es als hréam 4, die anglo-normannische als hutesium, hue- sium 5. Ausrufungen, die als Gerüfte üblich waren, überliefern uns zwar erst jüngere Quellen. Doch reichen sie zum Teil in höchstes Altertum zurück. An die Nachbarn gerichtet, die herbeigerufen wer- den, haben manche die Bedeutung: kommt heraus, kommt hierher! so das niederdeutsche tiodûte, das friesische tianût, das hochdeutsche zêtar, zêter, wovon der Ausdruck Zetergeschrei herstammt, das fran- zösisch-normannische haro, harou, hare, hareu 6. Diesem würde latei- nisch huc entsprechen, wovon das mittellateinische huccus, Ruf, das altfranzösische hucher, rufen, gebildet ist 7. Auf ein altfränkisches hûz, foras, geht vielleicht das altfranzösische und anglo-normannische hus, hue zurück 8, das aber auch Naturlaut sein könnte. Andere For- men des Gerüftes sind der besonderen Veranlassung entlehnt; so dibio, mordio, feuerio, feindio. Hilfe begehren die Interjektionen hilfio, wapenio, wafenio, heilalle, wovon das Gerüfte auch Waffenruf, Heil- allgeschrei heiſst 9. Das Verfahren um handhafte That ist ein Verfahren gegen einen Friedlosen. War die That handhaft und durch Gerüfte verlautbart, so bedurfte es nicht erst einer Friedloslegung. Der Thäter hatte sich 4 Schmid, Ges. der Ags. S. 613. Ahd. entspräche hrôm, Geschrei, Ruhm. Schade, WB S. 425. 5 Vgl. schwedisch huta, schreien. Diefenbach, Etym. WB II 510 ff. 6 All diese Interjektionen vertragen nur einfache Erklärungen. Tiodûte ist wörtlich: zieht heraus (altsächsisch tiohad ûta), Schade, WB S. 939. Zêter lautete ursprünglich ziehet har, Schade, WB S. 1254. Haro, in der Champagne hare, bedeutet hierher und stammt von ahd. hara, Diez, WB II c s. h. v. Schade, WB. S. 372. Das friesische Gerüfte hieſs tianutroft, was Richthofen, WB S. 1085, aus dem in Jurisprudentia frisica II 170 überlieferten tie ûta zieht heraus erklärt. Geradezu unglaublich ist, was übel angebrachte Gelehrsamkeit in jene schlichten Rufe hineingeheimniſst hat. Über die ältere Litteratur siehe Dreyer, Nebenstunden S. 79 ff. Petersen sucht a. O. mythologische Beziehungen zu ent- decken. Die wunderlichen Erklärungen, die das normannische Gerüfte haro hervor- gerufen hat, verzeichnet Glasson, der aber selbst, auf etymologischem Gebiete völlig steuerlos, seine schlimmsten Vorgänger überbietet, indem er haro mit dem harahus der Lex Ribuaria, mit ahd. harên schreien, mit ags. hréam und mit dem bairischen hrâopant in Verbindung bringt. 7 Form. Turon. 30: homines, qui ad ipsos huccos cucurrerunt, quando iam dictus homo ibidem interfectus fuit. Über hucher Diez a. O. s. h. v. 8 Hutz rief der sterbende Ludwig I. in seiner Todesangst, quod significat foras nach Thegan MG SS II 648. Vgl. den Lorscher Bienensegen: kirst, imbi ist hûze, und dazu Scherers Anmerkung in seinen und Müllenhoffs Denkmälern. Über friesisch hût für ût Rh. WB S. 833, 1117. Über hus, uz Du Cange (Hen- schel) III 724 s. v. huesium. 9 Über die Pflicht dem Gerüfte zu folgen siehe oben S. 227.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/500
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/500>, abgerufen am 14.08.2024.