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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 106. Die Gottesurteile.
hat die Bahrprobe von Hause nicht den Charakter des echten Gottes-
urteils. Doch ist sie ein solches jedenfalls im Laufe der Zeit geworden 64.
Der Vorgang des Bahrgerichts bestand darin, dass der Leichnam zu-
nächst aufgebahrt, bei gerichtlicher Anwendung des Ordals vor Gericht
gebracht wurde 65. Der Beweisführer musste nackt, wie ihn Gott er-
schaffen, nur die Scham bekleidet 66, an die Bahre treten, niederknieen 67,
einen Unschuldseid schwören 68 und den Leichnam berühren, 'antasten'69
durch Auflegung der Finger, nach einer bairischen Quelle durch Kuss.
Die Handlung soll nach manchen Rechten in ihren einzelnen Teilen
dreimal erfolgen. Fangen die Wunden des Leichnams an zu bluten,
'verkehren sie sich', so ist der Beweisführer schuldig, dagegen schuld-
los, wenn 'das Schein' kein Zeichen giebt. Das Bahrrecht diente nicht
etwa bloss als Untersuchungsmittel 70, sondern als wahres Beweis-
mittel 71.

5. Das Ordal des Probebissens, iudicium panis et casei, frie-
sisch corbita (Kurbissen), angelsächsisch corsnaed (Kurschnitt), iudicium
offae. Dem Beweisführer wird ein Stück trockenen Gerstenbrotes und
dürren Käses von bestimmtem Gewicht in den Mund gesteckt. Er
gilt für schuldlos, wenn er den Imbiss ohne Anstand verschlingen kann,

64 Siehe Anm. 68. 69. 71. Gottesrecht heisst sie bei Pufendorf, Observatio-
nes II 23.
65 Ruprecht von Freising II, c. 112 ed. Maurer S. 363: und sol in auf den
ring tragen für das gericht und der das gericht tuet, der sol dreystund auf sein
parn knyen umb dy par gen vnd sol den toten küssen.
66 Mit unbenütztem Linnen. Formular bei Pufendorf, Observationes II 22,
aus einem Rechtsfall von 1566. Beschoren, wo er Haar hat, nackend bis auf ein
neues Untergewand nach schweiz. Rechtsquellen. Osenbrüggen a. O. S. 329 f.
67 Pufendorf a. O.: die greven sollen R. den eid staven und er soll in den
knien sitzen.
68 Ruprecht von Freising a. O.: ich zeug es an got den herrn und an
dich, das ich an deinem tod unschuldig pin. Vgl. den Eid des Luzerner Formel-
buchs von 1542 bei Osenbrüggen a. O. S. 329.
69 Landrecht von Buddinge und Hakeswolde bei Magnin, Besturen .. in
Drenthe II 2, S. 288: item wye betegen oft berucht word voer moert, die sal den
doeden antasten, die vermoert is; onsculdiget voer God, soe is hy onsculdich.
70 So K. Maurer, Kr. Ü. V 219, Anm. 1, dem Dahn, Bausteine II 14,
Anm., folgt Planck, Gerichtsverfahren II 144, Anm. 2, fasst das Bahrrecht als
einen Akt leiblicher Beweisung auf.
71 Ruprecht von Freising a. O. S. 364: haben sy sich aber verchert, das sy
pluetig sind (die Wunden), so ist er des todes schuldig worden den fründten und
dem gericht. Urteilsfrage bei Pufendorf a. O. Weil H. R. das Gottesrecht ge-
standen und dreymal zum Schein gegangen und der Allmächtige ihn errettet
und kein Zeichen geschehen, ob er nun ledig und los seyn solle. Gefunden: weil
er nun sein recht gestanden, so sey er seines halses feilig.

§ 106. Die Gottesurteile.
hat die Bahrprobe von Hause nicht den Charakter des echten Gottes-
urteils. Doch ist sie ein solches jedenfalls im Laufe der Zeit geworden 64.
Der Vorgang des Bahrgerichts bestand darin, daſs der Leichnam zu-
nächst aufgebahrt, bei gerichtlicher Anwendung des Ordals vor Gericht
gebracht wurde 65. Der Beweisführer muſste nackt, wie ihn Gott er-
schaffen, nur die Scham bekleidet 66, an die Bahre treten, niederknieen 67,
einen Unschuldseid schwören 68 und den Leichnam berühren, ‘antasten‘69
durch Auflegung der Finger, nach einer bairischen Quelle durch Kuſs.
Die Handlung soll nach manchen Rechten in ihren einzelnen Teilen
dreimal erfolgen. Fangen die Wunden des Leichnams an zu bluten,
‘verkehren sie sich‘, so ist der Beweisführer schuldig, dagegen schuld-
los, wenn ‘das Schein’ kein Zeichen giebt. Das Bahrrecht diente nicht
etwa bloſs als Untersuchungsmittel 70, sondern als wahres Beweis-
mittel 71.

5. Das Ordal des Probebissens, iudicium panis et casei, frie-
sisch corbita (Kurbissen), angelsächsisch corsnǽd (Kurschnitt), iudicium
offae. Dem Beweisführer wird ein Stück trockenen Gerstenbrotes und
dürren Käses von bestimmtem Gewicht in den Mund gesteckt. Er
gilt für schuldlos, wenn er den Imbiſs ohne Anstand verschlingen kann,

64 Siehe Anm. 68. 69. 71. Gottesrecht heiſst sie bei Pufendorf, Observatio-
nes II 23.
65 Ruprecht von Freising II, c. 112 ed. Maurer S. 363: und sol in auf den
ring tragen für das gericht und der das gericht tuet, der sol dreystund auf sein
parn knyen umb dy par gen vnd sol den toten küssen.
66 Mit unbenütztem Linnen. Formular bei Pufendorf, Observationes II 22,
aus einem Rechtsfall von 1566. Beschoren, wo er Haar hat, nackend bis auf ein
neues Untergewand nach schweiz. Rechtsquellen. Osenbrüggen a. O. S. 329 f.
67 Pufendorf a. O.: die greven sollen R. den eid staven und er soll in den
knien sitzen.
68 Ruprecht von Freising a. O.: ich zeug es an got den herrn und an
dich, das ich an deinem tod unschuldig pin. Vgl. den Eid des Luzerner Formel-
buchs von 1542 bei Osenbrüggen a. O. S. 329.
69 Landrecht von Buddinge und Hakeswolde bei Magnin, Besturen .. in
Drenthe II 2, S. 288: item wye betegen oft berucht word voer moert, die sal den
doeden antasten, die vermoert is; onsculdiget voer God, soe is hy onsculdich.
70 So K. Maurer, Kr. Ü. V 219, Anm. 1, dem Dahn, Bausteine II 14,
Anm., folgt Planck, Gerichtsverfahren II 144, Anm. 2, faſst das Bahrrecht als
einen Akt leiblicher Beweisung auf.
71 Ruprecht von Freising a. O. S. 364: haben sy sich aber verchert, das sy
pluetig sind (die Wunden), so ist er des todes schuldig worden den fründten und
dem gericht. Urteilsfrage bei Pufendorf a. O. Weil H. R. das Gottesrecht ge-
standen und dreymal zum Schein gegangen und der Allmächtige ihn errettet
und kein Zeichen geschehen, ob er nun ledig und los seyn solle. Gefunden: weil
er nun sein recht gestanden, so sey er seines halses feilig.
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[412/0430] § 106. Die Gottesurteile. hat die Bahrprobe von Hause nicht den Charakter des echten Gottes- urteils. Doch ist sie ein solches jedenfalls im Laufe der Zeit geworden 64. Der Vorgang des Bahrgerichts bestand darin, daſs der Leichnam zu- nächst aufgebahrt, bei gerichtlicher Anwendung des Ordals vor Gericht gebracht wurde 65. Der Beweisführer muſste nackt, wie ihn Gott er- schaffen, nur die Scham bekleidet 66, an die Bahre treten, niederknieen 67, einen Unschuldseid schwören 68 und den Leichnam berühren, ‘antasten‘ 69 durch Auflegung der Finger, nach einer bairischen Quelle durch Kuſs. Die Handlung soll nach manchen Rechten in ihren einzelnen Teilen dreimal erfolgen. Fangen die Wunden des Leichnams an zu bluten, ‘verkehren sie sich‘, so ist der Beweisführer schuldig, dagegen schuld- los, wenn ‘das Schein’ kein Zeichen giebt. Das Bahrrecht diente nicht etwa bloſs als Untersuchungsmittel 70, sondern als wahres Beweis- mittel 71. 5. Das Ordal des Probebissens, iudicium panis et casei, frie- sisch corbita (Kurbissen), angelsächsisch corsnǽd (Kurschnitt), iudicium offae. Dem Beweisführer wird ein Stück trockenen Gerstenbrotes und dürren Käses von bestimmtem Gewicht in den Mund gesteckt. Er gilt für schuldlos, wenn er den Imbiſs ohne Anstand verschlingen kann, 64 Siehe Anm. 68. 69. 71. Gottesrecht heiſst sie bei Pufendorf, Observatio- nes II 23. 65 Ruprecht von Freising II, c. 112 ed. Maurer S. 363: und sol in auf den ring tragen für das gericht und der das gericht tuet, der sol dreystund auf sein parn knyen umb dy par gen vnd sol den toten küssen. 66 Mit unbenütztem Linnen. Formular bei Pufendorf, Observationes II 22, aus einem Rechtsfall von 1566. Beschoren, wo er Haar hat, nackend bis auf ein neues Untergewand nach schweiz. Rechtsquellen. Osenbrüggen a. O. S. 329 f. 67 Pufendorf a. O.: die greven sollen R. den eid staven und er soll in den knien sitzen. 68 Ruprecht von Freising a. O.: ich zeug es an got den herrn und an dich, das ich an deinem tod unschuldig pin. Vgl. den Eid des Luzerner Formel- buchs von 1542 bei Osenbrüggen a. O. S. 329. 69 Landrecht von Buddinge und Hakeswolde bei Magnin, Besturen .. in Drenthe II 2, S. 288: item wye betegen oft berucht word voer moert, die sal den doeden antasten, die vermoert is; onsculdiget voer God, soe is hy onsculdich. 70 So K. Maurer, Kr. Ü. V 219, Anm. 1, dem Dahn, Bausteine II 14, Anm., folgt Planck, Gerichtsverfahren II 144, Anm. 2, faſst das Bahrrecht als einen Akt leiblicher Beweisung auf. 71 Ruprecht von Freising a. O. S. 364: haben sy sich aber verchert, das sy pluetig sind (die Wunden), so ist er des todes schuldig worden den fründten und dem gericht. Urteilsfrage bei Pufendorf a. O. Weil H. R. das Gottesrecht ge- standen und dreymal zum Schein gegangen und der Allmächtige ihn errettet und kein Zeichen geschehen, ob er nun ledig und los seyn solle. Gefunden: weil er nun sein recht gestanden, so sey er seines halses feilig.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/430>, abgerufen am 17.09.2024.