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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.
die Regeln, nach welchen die Beweisrolle zwischen Kläger und Be-
klagtem verteilt wurde 18.

Unendlich oft ist die Frage aufgeworfen worden, wie so denn
das deutsche Recht dazu gelangte, die Beweisrolle grundsätzlich dem
Beklagten zuzuteilen. Sie darf hier nicht umgangen werden, findet
aber ihre Antwort nicht in spekulativen Erklärungsversuchen, sondern
in Erwägungen, welche die Quellen selbst an die Hand geben. Dass
man von dem Beklagten auf die Klage hin deren Entkräftung ver-
langte, hört auf zu befremden, wenn wir erwägen, dass die Klage unter
Anrufung der Götter, in christlicher Zeit bei Voreid des Klägers oder
bei Vorhandensein bestimmter Verdachtsgründe erhoben wurde 19. Dass
man aber, vor die Wahl gestellt zwischen dem Beweise des Klägers
und dem des Beklagten, ceteris paribus den letzteren entscheiden
liess, beruht auf einem Grunde, der auch für die Wahl der Eidhelfer
aus der Sippe des Beweisführers massgebend war, nämlich darauf, dass
man bei ihm und seiner Sippe die bessere Wissenschaft der beweis-
bedürftigen Thatsache voraussetzen durfte 20.

Der Beweis, durch den der Beklagte den Klagvorwurf zu ent-
kräften hat, ist regelmässig Eid mit Eidhelfern oder ohne Helfer. Allein
der Eid des Beklagten kann in bestimmten Fällen durch den Zeugenbeweis
des Klägers ausgeschlossen werden. Stimmen hierin die verschiedenen
Rechte überein, so gehen sie doch, hinsichtlich des Spielraumes, den
sie dem Zeugenbeweise des Klägers einräumen, weit auseinander. Die
entgegengesetzten Pole bilden in dieser Beziehung das Recht der Lex
Salica und das sächsische Recht, wie es uns in den sächsischen Rechts-
büchern entgegentritt. Jenes zieht dem Zeugenbeweise des Klägers die
weitesten, dieses die engsten Grenzen. Die übrigen deutschen Stammes-
rechte halten zwischen beiden die Mitte. Falls beide Streitteile sich
auf Zeugenbeweis berufen, so gehen gemäss der allgemeinen Regel die
Zeugen des Beklagten vor.

Parteieide und Zeugeneide können vom Gegner des Beweisfüh-
rers gescholten werden unter Voraussetzungen, die herbeizuführen
wenigstens bei wichtigeren Streitsachen regelmässig in der Hand des

18 Daran scheitern die Ausführungen, durch welche sich R. Loening,
Reinigungseid, in Gegensatz zur herrschenden Auffassung des germanischen Be-
weisrechtes setzt.
19 Siehe oben S. 344.
20 Ausdrücklich sagt dies eine jüngere Quelle, die Somma de legibus et con-
suetudinibus Normanniae II 63, § 1 (c. 126 des lat. Textes der Ausgabe von 1523):
quoniam facti proprii unusquisque presumitur scire melius veritatem, deraisnia
de facto, quod ei obicitur, conceditur insecuto.

§ 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle.
die Regeln, nach welchen die Beweisrolle zwischen Kläger und Be-
klagtem verteilt wurde 18.

Unendlich oft ist die Frage aufgeworfen worden, wie so denn
das deutsche Recht dazu gelangte, die Beweisrolle grundsätzlich dem
Beklagten zuzuteilen. Sie darf hier nicht umgangen werden, findet
aber ihre Antwort nicht in spekulativen Erklärungsversuchen, sondern
in Erwägungen, welche die Quellen selbst an die Hand geben. Daſs
man von dem Beklagten auf die Klage hin deren Entkräftung ver-
langte, hört auf zu befremden, wenn wir erwägen, daſs die Klage unter
Anrufung der Götter, in christlicher Zeit bei Voreid des Klägers oder
bei Vorhandensein bestimmter Verdachtsgründe erhoben wurde 19. Daſs
man aber, vor die Wahl gestellt zwischen dem Beweise des Klägers
und dem des Beklagten, ceteris paribus den letzteren entscheiden
lieſs, beruht auf einem Grunde, der auch für die Wahl der Eidhelfer
aus der Sippe des Beweisführers maſsgebend war, nämlich darauf, daſs
man bei ihm und seiner Sippe die bessere Wissenschaft der beweis-
bedürftigen Thatsache voraussetzen durfte 20.

Der Beweis, durch den der Beklagte den Klagvorwurf zu ent-
kräften hat, ist regelmäſsig Eid mit Eidhelfern oder ohne Helfer. Allein
der Eid des Beklagten kann in bestimmten Fällen durch den Zeugenbeweis
des Klägers ausgeschlossen werden. Stimmen hierin die verschiedenen
Rechte überein, so gehen sie doch, hinsichtlich des Spielraumes, den
sie dem Zeugenbeweise des Klägers einräumen, weit auseinander. Die
entgegengesetzten Pole bilden in dieser Beziehung das Recht der Lex
Salica und das sächsische Recht, wie es uns in den sächsischen Rechts-
büchern entgegentritt. Jenes zieht dem Zeugenbeweise des Klägers die
weitesten, dieses die engsten Grenzen. Die übrigen deutschen Stammes-
rechte halten zwischen beiden die Mitte. Falls beide Streitteile sich
auf Zeugenbeweis berufen, so gehen gemäſs der allgemeinen Regel die
Zeugen des Beklagten vor.

Parteieide und Zeugeneide können vom Gegner des Beweisfüh-
rers gescholten werden unter Voraussetzungen, die herbeizuführen
wenigstens bei wichtigeren Streitsachen regelmäſsig in der Hand des

18 Daran scheitern die Ausführungen, durch welche sich R. Loening,
Reinigungseid, in Gegensatz zur herrschenden Auffassung des germanischen Be-
weisrechtes setzt.
19 Siehe oben S. 344.
20 Ausdrücklich sagt dies eine jüngere Quelle, die Somma de legibus et con-
suetudinibus Normanniae II 63, § 1 (c. 126 des lat. Textes der Ausgabe von 1523):
quoniam facti proprii unusquisque presumitur scire melius veritatem, deraisnia
de facto, quod ei obicitur, conceditur insecuto.
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[373/0391] § 103. Die allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Beweisrolle. die Regeln, nach welchen die Beweisrolle zwischen Kläger und Be- klagtem verteilt wurde 18. Unendlich oft ist die Frage aufgeworfen worden, wie so denn das deutsche Recht dazu gelangte, die Beweisrolle grundsätzlich dem Beklagten zuzuteilen. Sie darf hier nicht umgangen werden, findet aber ihre Antwort nicht in spekulativen Erklärungsversuchen, sondern in Erwägungen, welche die Quellen selbst an die Hand geben. Daſs man von dem Beklagten auf die Klage hin deren Entkräftung ver- langte, hört auf zu befremden, wenn wir erwägen, daſs die Klage unter Anrufung der Götter, in christlicher Zeit bei Voreid des Klägers oder bei Vorhandensein bestimmter Verdachtsgründe erhoben wurde 19. Daſs man aber, vor die Wahl gestellt zwischen dem Beweise des Klägers und dem des Beklagten, ceteris paribus den letzteren entscheiden lieſs, beruht auf einem Grunde, der auch für die Wahl der Eidhelfer aus der Sippe des Beweisführers maſsgebend war, nämlich darauf, daſs man bei ihm und seiner Sippe die bessere Wissenschaft der beweis- bedürftigen Thatsache voraussetzen durfte 20. Der Beweis, durch den der Beklagte den Klagvorwurf zu ent- kräften hat, ist regelmäſsig Eid mit Eidhelfern oder ohne Helfer. Allein der Eid des Beklagten kann in bestimmten Fällen durch den Zeugenbeweis des Klägers ausgeschlossen werden. Stimmen hierin die verschiedenen Rechte überein, so gehen sie doch, hinsichtlich des Spielraumes, den sie dem Zeugenbeweise des Klägers einräumen, weit auseinander. Die entgegengesetzten Pole bilden in dieser Beziehung das Recht der Lex Salica und das sächsische Recht, wie es uns in den sächsischen Rechts- büchern entgegentritt. Jenes zieht dem Zeugenbeweise des Klägers die weitesten, dieses die engsten Grenzen. Die übrigen deutschen Stammes- rechte halten zwischen beiden die Mitte. Falls beide Streitteile sich auf Zeugenbeweis berufen, so gehen gemäſs der allgemeinen Regel die Zeugen des Beklagten vor. Parteieide und Zeugeneide können vom Gegner des Beweisfüh- rers gescholten werden unter Voraussetzungen, die herbeizuführen wenigstens bei wichtigeren Streitsachen regelmäſsig in der Hand des 18 Daran scheitern die Ausführungen, durch welche sich R. Loening, Reinigungseid, in Gegensatz zur herrschenden Auffassung des germanischen Be- weisrechtes setzt. 19 Siehe oben S. 344. 20 Ausdrücklich sagt dies eine jüngere Quelle, die Somma de legibus et con- suetudinibus Normanniae II 63, § 1 (c. 126 des lat. Textes der Ausgabe von 1523): quoniam facti proprii unusquisque presumitur scire melius veritatem, deraisnia de facto, quod ei obicitur, conceditur insecuto.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/391>, abgerufen am 22.11.2024.