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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 101. Urteil und Urteilschelte.
die an den Sieger zu zahlen ist 32. Ebensoviel verwirkt der Schel-
tende an jeden der gescholtenen Rachineburgen (bis zu sieben), wenn
er mit seinem Gegenurteil im Scheltungsprozesse unterliegt. Dass die
Absicht der Rechtswidrigkeit bei dem Unterliegenden ohne weiteres
vorausgesetzt und insbesondere den Urteilfindern nicht etwa die
Einrede nachgelassen wird, nach bestem Wissen und Gewissen geur-
teilt zu haben, ist nur eine vereinzelte Anwendung eines das ger-
manische Strafrecht beherrschenden Grundsatzes. Dieses schliesst
nämlich aus dem entsprechenden objektiven Thatbestande ohne weiteres
auf das Vorhandensein des rechtswidrigen Willens und behandelt --
von typischen Ausnahmefällen abgesehen, die hier nicht in Betracht
kommen -- absichtslose Missethaten gleich den absichtlichen, ohne
den Beweis der Absichtslosigkeit zuzulassen 33.

Die Rechte der Westgoten, der Baiern und Alamannen, der Angel-
sachsen und Nordgermanen stehen hinsichtlich der Urteilschelte bereits
auf einem jüngeren Standpunkte der Entwicklung. Sie setzen bei dem
überführten Urteiler nicht wie die fränkischen Volksrechte den Willen
der Rechtsbeugung ohne weiteres voraus, sondern unterscheiden, ob
das erfolgreich angefochtene Urteil mit rechtswidriger Absicht oder aus
Irrtum gefunden worden war. Im Falle des Irrtums ist zwar das
Urteil kraftlos; doch bleibt der Urteiler nach den meisten Rechten frei
von Ahndung. Nach den Rechten der Westgoten 34, der Angelsachsen 35
und nach nordischen Rechten 36 erhärtet er durch seinen Eid, dass er
das Urteil nicht besser wusste. Bei den Langobarden wird ihm
der Reinigungseid nur verstattet, wenn es sich um eine Rechtssache
handelt, die nicht nach dem Wortlaute des Edictus Langobardorum,
sondern ex arbitrio zu entscheiden war 37. Das burgundische Recht
legt dem Richter im Falle der Rechtsunkenntnis oder der Nachlässig-
keit stets eine dem Fiscus verfallende Busse auf, weil ihm bei Rechts-
fragen, die in dem Liber constitutionum nicht vorgesehen sind, vor-

32 Nach der Keure des Landes der Freien von Brügge von circa 1190, § 3,
zahlt der gescholtene Schöffe (falsificatus) zehn Pfund und verliert die Fähigkeit
zum Schöffentum. Nachdem er die Schöffenbank geküsst, muss er, das Antlitz ihr
zugewendet, rücklings das Ding verlassen et nunquam ad scabinatum accedat.
33 H. Brunner in Berl. SB 1890, S. 815 und unten § 125.
34 Lex Wisig. II 1, 20. Über c. 10 der provencalischen Fragmente vgl.
Gaudenzi, Un' antica compilazione S. 121 ff.
35 Edgar III 3. Knut II 15, 1. Wilh. I 13. Anhang I, c. 3, bei Schmid
S. 360.
36 Frostuthingslög, Inldg. 16, vgl. X 30. Brandt, Forelaesninger II 390.
37 Liu. 28. Vgl. Roth. 25.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
die an den Sieger zu zahlen ist 32. Ebensoviel verwirkt der Schel-
tende an jeden der gescholtenen Rachineburgen (bis zu sieben), wenn
er mit seinem Gegenurteil im Scheltungsprozesse unterliegt. Daſs die
Absicht der Rechtswidrigkeit bei dem Unterliegenden ohne weiteres
vorausgesetzt und insbesondere den Urteilfindern nicht etwa die
Einrede nachgelassen wird, nach bestem Wissen und Gewissen geur-
teilt zu haben, ist nur eine vereinzelte Anwendung eines das ger-
manische Strafrecht beherrschenden Grundsatzes. Dieses schlieſst
nämlich aus dem entsprechenden objektiven Thatbestande ohne weiteres
auf das Vorhandensein des rechtswidrigen Willens und behandelt —
von typischen Ausnahmefällen abgesehen, die hier nicht in Betracht
kommen — absichtslose Missethaten gleich den absichtlichen, ohne
den Beweis der Absichtslosigkeit zuzulassen 33.

Die Rechte der Westgoten, der Baiern und Alamannen, der Angel-
sachsen und Nordgermanen stehen hinsichtlich der Urteilschelte bereits
auf einem jüngeren Standpunkte der Entwicklung. Sie setzen bei dem
überführten Urteiler nicht wie die fränkischen Volksrechte den Willen
der Rechtsbeugung ohne weiteres voraus, sondern unterscheiden, ob
das erfolgreich angefochtene Urteil mit rechtswidriger Absicht oder aus
Irrtum gefunden worden war. Im Falle des Irrtums ist zwar das
Urteil kraftlos; doch bleibt der Urteiler nach den meisten Rechten frei
von Ahndung. Nach den Rechten der Westgoten 34, der Angelsachsen 35
und nach nordischen Rechten 36 erhärtet er durch seinen Eid, daſs er
das Urteil nicht besser wuſste. Bei den Langobarden wird ihm
der Reinigungseid nur verstattet, wenn es sich um eine Rechtssache
handelt, die nicht nach dem Wortlaute des Edictus Langobardorum,
sondern ex arbitrio zu entscheiden war 37. Das burgundische Recht
legt dem Richter im Falle der Rechtsunkenntnis oder der Nachlässig-
keit stets eine dem Fiscus verfallende Buſse auf, weil ihm bei Rechts-
fragen, die in dem Liber constitutionum nicht vorgesehen sind, vor-

32 Nach der Keure des Landes der Freien von Brügge von circa 1190, § 3,
zahlt der gescholtene Schöffe (falsificatus) zehn Pfund und verliert die Fähigkeit
zum Schöffentum. Nachdem er die Schöffenbank geküſst, muſs er, das Antlitz ihr
zugewendet, rücklings das Ding verlassen et nunquam ad scabinatum accedat.
33 H. Brunner in Berl. SB 1890, S. 815 und unten § 125.
34 Lex Wisig. II 1, 20. Über c. 10 der provençalischen Fragmente vgl.
Gaudenzi, Un’ antica compilazione S. 121 ff.
35 Edgar III 3. Knut II 15, 1. Wilh. I 13. Anhang I, c. 3, bei Schmid
S. 360.
36 Frostuþíngslög, Inldg. 16, vgl. X 30. Brandt, Forelæsninger II 390.
37 Liu. 28. Vgl. Roth. 25.
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[360/0378] § 101. Urteil und Urteilschelte. die an den Sieger zu zahlen ist 32. Ebensoviel verwirkt der Schel- tende an jeden der gescholtenen Rachineburgen (bis zu sieben), wenn er mit seinem Gegenurteil im Scheltungsprozesse unterliegt. Daſs die Absicht der Rechtswidrigkeit bei dem Unterliegenden ohne weiteres vorausgesetzt und insbesondere den Urteilfindern nicht etwa die Einrede nachgelassen wird, nach bestem Wissen und Gewissen geur- teilt zu haben, ist nur eine vereinzelte Anwendung eines das ger- manische Strafrecht beherrschenden Grundsatzes. Dieses schlieſst nämlich aus dem entsprechenden objektiven Thatbestande ohne weiteres auf das Vorhandensein des rechtswidrigen Willens und behandelt — von typischen Ausnahmefällen abgesehen, die hier nicht in Betracht kommen — absichtslose Missethaten gleich den absichtlichen, ohne den Beweis der Absichtslosigkeit zuzulassen 33. Die Rechte der Westgoten, der Baiern und Alamannen, der Angel- sachsen und Nordgermanen stehen hinsichtlich der Urteilschelte bereits auf einem jüngeren Standpunkte der Entwicklung. Sie setzen bei dem überführten Urteiler nicht wie die fränkischen Volksrechte den Willen der Rechtsbeugung ohne weiteres voraus, sondern unterscheiden, ob das erfolgreich angefochtene Urteil mit rechtswidriger Absicht oder aus Irrtum gefunden worden war. Im Falle des Irrtums ist zwar das Urteil kraftlos; doch bleibt der Urteiler nach den meisten Rechten frei von Ahndung. Nach den Rechten der Westgoten 34, der Angelsachsen 35 und nach nordischen Rechten 36 erhärtet er durch seinen Eid, daſs er das Urteil nicht besser wuſste. Bei den Langobarden wird ihm der Reinigungseid nur verstattet, wenn es sich um eine Rechtssache handelt, die nicht nach dem Wortlaute des Edictus Langobardorum, sondern ex arbitrio zu entscheiden war 37. Das burgundische Recht legt dem Richter im Falle der Rechtsunkenntnis oder der Nachlässig- keit stets eine dem Fiscus verfallende Buſse auf, weil ihm bei Rechts- fragen, die in dem Liber constitutionum nicht vorgesehen sind, vor- 32 Nach der Keure des Landes der Freien von Brügge von circa 1190, § 3, zahlt der gescholtene Schöffe (falsificatus) zehn Pfund und verliert die Fähigkeit zum Schöffentum. Nachdem er die Schöffenbank geküſst, muſs er, das Antlitz ihr zugewendet, rücklings das Ding verlassen et nunquam ad scabinatum accedat. 33 H. Brunner in Berl. SB 1890, S. 815 und unten § 125. 34 Lex Wisig. II 1, 20. Über c. 10 der provençalischen Fragmente vgl. Gaudenzi, Un’ antica compilazione S. 121 ff. 35 Edgar III 3. Knut II 15, 1. Wilh. I 13. Anhang I, c. 3, bei Schmid S. 360. 36 Frostuþíngslög, Inldg. 16, vgl. X 30. Brandt, Forelæsninger II 390. 37 Liu. 28. Vgl. Roth. 25.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/378>, abgerufen am 22.11.2024.