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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 101. Urteil und Urteilschelte.
Urteiler das Recht nicht sagen wollten14 und somit wissentlich ihre
Pflicht verletzt hätten15.

Nach altfränkischem Rechte fällt der nach Ansicht der Partei un-
gerechte Urteilsvorschlag unter den Gesichtspunkt der Verweigerung
eines gerechten Urteils. Da eine Verweigerung des Urteils im Rechts-
sinne erst vorliegt, nachdem die Urteilfinder vergeblich tanganiert
worden waren, so kann nach altfränkischem Rechte nur ein tanga-
niertes Urteil gescholten werden. Haben die Rachineburgen auf die
formlose Aufforderung hin ein Urteil gefunden, so muss die Partei,
die damit unzufrieden ist, die Urteilfinder zunächst tanganieren, ut
legem dicant. Erst wenn das auf Tangano hin gefundene Urteil dem
Rechte nicht entspricht, kann die Partei die förmliche Schelte ein-
bringen16.

Zahlreiche Quellen der folgenden Periode stimmen darin überein,
dass die Schelte sofort, dass sie unverwandten oder unverrückten
Fusses17, oder ehe der Scheltende das Angesicht von dem Richter weg-
kehrte18, eingebracht werden müsse. Nach manchen Rechten ist die
Schelte versäumt, sobald das Urteil das Vollwort erhalten hat oder
sobald eine bestimmte Zahl von Urteilfindern dem Urteil Folge gethan
hat. Andere Quellen gestatten die Schelte noch nach der Folge; doch
hat dann der Scheltende alle diejenigen zu Gegnern, welche vor der
Schelte dem Urteil gefolgt sind19. Das Erfordernis sofortiger Schelte
reicht jedenfalls in die fränkische Zeit zurück. Sicherlich war die
Schelte nicht mehr zulässig, sobald das Rechtsgebot des Richters er-

14 Lex Rib. 55: si quis causam suam prosequitur et raginburgii inter eos
secundum legem Ribuariam dicere noluerint, tunc illi, in quem sententiam contra-
riam dixerint, dicat: ego vos tangano, ut mihi legem dicatis. Quod si dicere
noluerint
et postea convicti fuerint, unusquisque eorum ter quinos solidos
multetur. Similiter et illi, qui raginburgiis recte dicentibus non adquieverit. Die
Urteilfinder haben nicht etwa überhaupt die Findung eines Urteils verweigert, son-
dern ein von der Partei gescholtenes Urteil gefunden und werden überführt, dass
sie ein dem Volksrecht entsprechendes Urteil nicht hätten sagen wollen.
15 Diese Auffassung der Schelte äussert sich im altfranzösischen Rechte u. a.
darin, dass derjenige, der ein Urteil gescholten, von dem gescholtenen Urteiler kein
Urteil und keinen Eid nehmen darf, ohne auf die Schelte zu verzichten. H. Brun-
ner
, Wort und Form im altfranzösischen Prozess S. 739 f. 740, Anm. 1.
16 Das geht deutlich genug aus Lex Rib. 55 hervor.
17 Grimm, RA S. 866. Noordewier, Regtsoudh. S. 409. Siegel, Ge-
fahr vor Gericht und im Rechtsgang S. 26. H. Brunner, Wort und Form
im altfranzösischen Prozess S. 738.
18 Westerwolder Landr. 12, 3 bei Richthofen, Rqu. S. 272.
19 Tardif, La procedure civile et criminelle aux XIIIe et XIVe siecles (1885
S. 124.

§ 101. Urteil und Urteilschelte.
Urteiler das Recht nicht sagen wollten14 und somit wissentlich ihre
Pflicht verletzt hätten15.

Nach altfränkischem Rechte fällt der nach Ansicht der Partei un-
gerechte Urteilsvorschlag unter den Gesichtspunkt der Verweigerung
eines gerechten Urteils. Da eine Verweigerung des Urteils im Rechts-
sinne erst vorliegt, nachdem die Urteilfinder vergeblich tanganiert
worden waren, so kann nach altfränkischem Rechte nur ein tanga-
niertes Urteil gescholten werden. Haben die Rachineburgen auf die
formlose Aufforderung hin ein Urteil gefunden, so muſs die Partei,
die damit unzufrieden ist, die Urteilfinder zunächst tanganieren, ut
legem dicant. Erst wenn das auf Tangano hin gefundene Urteil dem
Rechte nicht entspricht, kann die Partei die förmliche Schelte ein-
bringen16.

Zahlreiche Quellen der folgenden Periode stimmen darin überein,
daſs die Schelte sofort, daſs sie unverwandten oder unverrückten
Fuſses17, oder ehe der Scheltende das Angesicht von dem Richter weg-
kehrte18, eingebracht werden müsse. Nach manchen Rechten ist die
Schelte versäumt, sobald das Urteil das Vollwort erhalten hat oder
sobald eine bestimmte Zahl von Urteilfindern dem Urteil Folge gethan
hat. Andere Quellen gestatten die Schelte noch nach der Folge; doch
hat dann der Scheltende alle diejenigen zu Gegnern, welche vor der
Schelte dem Urteil gefolgt sind19. Das Erfordernis sofortiger Schelte
reicht jedenfalls in die fränkische Zeit zurück. Sicherlich war die
Schelte nicht mehr zulässig, sobald das Rechtsgebot des Richters er-

14 Lex Rib. 55: si quis causam suam prosequitur et raginburgii inter eos
secundum legem Ribuariam dicere noluerint, tunc illi, in quem sententiam contra-
riam dixerint, dicat: ego vos tangano, ut mihi legem dicatis. Quod si dicere
noluerint
et postea convicti fuerint, unusquisque eorum ter quinos solidos
multetur. Similiter et illi, qui raginburgiis recte dicentibus non adquieverit. Die
Urteilfinder haben nicht etwa überhaupt die Findung eines Urteils verweigert, son-
dern ein von der Partei gescholtenes Urteil gefunden und werden überführt, daſs
sie ein dem Volksrecht entsprechendes Urteil nicht hätten sagen wollen.
15 Diese Auffassung der Schelte äuſsert sich im altfranzösischen Rechte u. a.
darin, daſs derjenige, der ein Urteil gescholten, von dem gescholtenen Urteiler kein
Urteil und keinen Eid nehmen darf, ohne auf die Schelte zu verzichten. H. Brun-
ner
, Wort und Form im altfranzösischen Prozeſs S. 739 f. 740, Anm. 1.
16 Das geht deutlich genug aus Lex Rib. 55 hervor.
17 Grimm, RA S. 866. Noordewier, Regtsoudh. S. 409. Siegel, Ge-
fahr vor Gericht und im Rechtsgang S. 26. H. Brunner, Wort und Form
im altfranzösischen Prozeſs S. 738.
18 Westerwolder Landr. 12, 3 bei Richthofen, Rqu. S. 272.
19 Tardif, La procédure civile et criminelle aux XIIIe et XIVe siècles (1885
S. 124.
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[357/0375] § 101. Urteil und Urteilschelte. Urteiler das Recht nicht sagen wollten 14 und somit wissentlich ihre Pflicht verletzt hätten 15. Nach altfränkischem Rechte fällt der nach Ansicht der Partei un- gerechte Urteilsvorschlag unter den Gesichtspunkt der Verweigerung eines gerechten Urteils. Da eine Verweigerung des Urteils im Rechts- sinne erst vorliegt, nachdem die Urteilfinder vergeblich tanganiert worden waren, so kann nach altfränkischem Rechte nur ein tanga- niertes Urteil gescholten werden. Haben die Rachineburgen auf die formlose Aufforderung hin ein Urteil gefunden, so muſs die Partei, die damit unzufrieden ist, die Urteilfinder zunächst tanganieren, ut legem dicant. Erst wenn das auf Tangano hin gefundene Urteil dem Rechte nicht entspricht, kann die Partei die förmliche Schelte ein- bringen 16. Zahlreiche Quellen der folgenden Periode stimmen darin überein, daſs die Schelte sofort, daſs sie unverwandten oder unverrückten Fuſses 17, oder ehe der Scheltende das Angesicht von dem Richter weg- kehrte 18, eingebracht werden müsse. Nach manchen Rechten ist die Schelte versäumt, sobald das Urteil das Vollwort erhalten hat oder sobald eine bestimmte Zahl von Urteilfindern dem Urteil Folge gethan hat. Andere Quellen gestatten die Schelte noch nach der Folge; doch hat dann der Scheltende alle diejenigen zu Gegnern, welche vor der Schelte dem Urteil gefolgt sind 19. Das Erfordernis sofortiger Schelte reicht jedenfalls in die fränkische Zeit zurück. Sicherlich war die Schelte nicht mehr zulässig, sobald das Rechtsgebot des Richters er- 14 Lex Rib. 55: si quis causam suam prosequitur et raginburgii inter eos secundum legem Ribuariam dicere noluerint, tunc illi, in quem sententiam contra- riam dixerint, dicat: ego vos tangano, ut mihi legem dicatis. Quod si dicere noluerint et postea convicti fuerint, unusquisque eorum ter quinos solidos multetur. Similiter et illi, qui raginburgiis recte dicentibus non adquieverit. Die Urteilfinder haben nicht etwa überhaupt die Findung eines Urteils verweigert, son- dern ein von der Partei gescholtenes Urteil gefunden und werden überführt, daſs sie ein dem Volksrecht entsprechendes Urteil nicht hätten sagen wollen. 15 Diese Auffassung der Schelte äuſsert sich im altfranzösischen Rechte u. a. darin, daſs derjenige, der ein Urteil gescholten, von dem gescholtenen Urteiler kein Urteil und keinen Eid nehmen darf, ohne auf die Schelte zu verzichten. H. Brun- ner, Wort und Form im altfranzösischen Prozeſs S. 739 f. 740, Anm. 1. 16 Das geht deutlich genug aus Lex Rib. 55 hervor. 17 Grimm, RA S. 866. Noordewier, Regtsoudh. S. 409. Siegel, Ge- fahr vor Gericht und im Rechtsgang S. 26. H. Brunner, Wort und Form im altfranzösischen Prozeſs S. 738. 18 Westerwolder Landr. 12, 3 bei Richthofen, Rqu. S. 272. 19 Tardif, La procédure civile et criminelle aux XIIIe et XIVe siècles (1885 S. 124.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/375>, abgerufen am 25.11.2024.