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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 96. Die Kirche.
von Karl dem Grossen aufs neue eingeschärft worden, kam aber unter
seinen Nachfolgern ausser Gebrauch. Erzbischof Hinkmar von Reims
schrieb dreist an Karl den Kahlen i. J. 868, Karl der Grosse habe
jenes Verbot aufgehoben57. Ein westfränkisches Kapitular v. J. 877
setzt die Entbehrlichkeit der königlichen Erlaubnis zum Eintritt in
den geistlichen Stand voraus58.

Je mehr die Kirche ihre Abhängigkeit vom Königtum lockerte,
desto rücksichtsloser nahm sie ihrerseits das brachium seculare für ihre
Zwecke in Anspruch. Die Synode von Meaux-Paris v. J. 845/6 ver-
langte, dass der König unter Brief und Siegel jedem Bischof eine Voll-
macht gebe, welche ihm ganz allgemein auf sein jeweiliges Verlangen
das weltliche Beamtentum zur Verfügung stelle59. Dazu hat sich
denn freilich selbst Karl der Kahle nicht herbeigelassen, wenn er auch
so weit ging, wenigstens in Italien jedem Bischof für seinen Sprengel
die Gewalt eines ständigen königlichen Missus zu verleihen60, und die
Grafen und Vassallen allgemein anwies, wo sie irgend können, die
Bischöfe in ihrer amtlichen Thätigkeit zu unterstützen61. Ein Kapi-
tular unbestimmten Ursprungs, welches wohl der spätkarolingischen Zeit
und Westfrancien angehört, lässt die Missi und die Bischöfe dafür
sorgen, dass dem Volke die Kunst, zu beten und das Kreuz zu
schlagen, durch Prügel und Fasten beigebracht werde. Darin soll der
Graf den Bischof unterstützen, sofern ihm die Huld des Königs
lieb sei62.

Extensiv und intensiv entwickelte sich die kirchliche Disziplinar-
und Gerichtsgewalt über Laien wegen Sünden und kirchlicher Ver-
gehen63. In Anlehnung an das weltliche Rügeverfahren entstand im
fränkischen Reiche das eigenartige Verfahren der geistlichen Send-
gerichte, wie es uns um die Wende des neunten und zehnten Jahr-
hunderts in voller Ausbildung quellenmässig vorliegt. Um das Er-
scheinen vor dem geistlichen Richter und die Erfüllung der auferlegten

57 Loening, Kirchenrecht II 171, Anm. 1.
58 Cap. Caris. c. 10, Pertz, LL I 539.
59 Mansi XIV 836, c. 71: auctoritatem sigillo regio roboratam more tractoriae
(siehe oben S. 231).
60 Siehe oben S. 196.
61 Cap. Papiense v. J. 876, c. 12, II 103.
62 Cap. incertum I 257, c. 2.
63 Nach Cap. Suession. c. 9, LL I 419 haben die Bischöfe das Recht, Kolo-
nen zur Pönitenz wider ihren Willen zu peitschen oder peitschen zu lassen. Die
Senioren, die sie solcher Zucht entziehen wollen, zahlen den Königsbann und er-
dulden neben der Exkommunikation eine vom König arbiträr bestimmte Strafe
(Harmschar).

§ 96. Die Kirche.
von Karl dem Groſsen aufs neue eingeschärft worden, kam aber unter
seinen Nachfolgern auſser Gebrauch. Erzbischof Hinkmar von Reims
schrieb dreist an Karl den Kahlen i. J. 868, Karl der Groſse habe
jenes Verbot aufgehoben57. Ein westfränkisches Kapitular v. J. 877
setzt die Entbehrlichkeit der königlichen Erlaubnis zum Eintritt in
den geistlichen Stand voraus58.

Je mehr die Kirche ihre Abhängigkeit vom Königtum lockerte,
desto rücksichtsloser nahm sie ihrerseits das brachium seculare für ihre
Zwecke in Anspruch. Die Synode von Meaux-Paris v. J. 845/6 ver-
langte, daſs der König unter Brief und Siegel jedem Bischof eine Voll-
macht gebe, welche ihm ganz allgemein auf sein jeweiliges Verlangen
das weltliche Beamtentum zur Verfügung stelle59. Dazu hat sich
denn freilich selbst Karl der Kahle nicht herbeigelassen, wenn er auch
so weit ging, wenigstens in Italien jedem Bischof für seinen Sprengel
die Gewalt eines ständigen königlichen Missus zu verleihen60, und die
Grafen und Vassallen allgemein anwies, wo sie irgend können, die
Bischöfe in ihrer amtlichen Thätigkeit zu unterstützen61. Ein Kapi-
tular unbestimmten Ursprungs, welches wohl der spätkarolingischen Zeit
und Westfrancien angehört, läſst die Missi und die Bischöfe dafür
sorgen, daſs dem Volke die Kunst, zu beten und das Kreuz zu
schlagen, durch Prügel und Fasten beigebracht werde. Darin soll der
Graf den Bischof unterstützen, sofern ihm die Huld des Königs
lieb sei62.

Extensiv und intensiv entwickelte sich die kirchliche Disziplinar-
und Gerichtsgewalt über Laien wegen Sünden und kirchlicher Ver-
gehen63. In Anlehnung an das weltliche Rügeverfahren entstand im
fränkischen Reiche das eigenartige Verfahren der geistlichen Send-
gerichte, wie es uns um die Wende des neunten und zehnten Jahr-
hunderts in voller Ausbildung quellenmäſsig vorliegt. Um das Er-
scheinen vor dem geistlichen Richter und die Erfüllung der auferlegten

57 Loening, Kirchenrecht II 171, Anm. 1.
58 Cap. Caris. c. 10, Pertz, LL I 539.
59 Mansi XIV 836, c. 71: auctoritatem sigillo regio roboratam more tractoriae
(siehe oben S. 231).
60 Siehe oben S. 196.
61 Cap. Papiense v. J. 876, c. 12, II 103.
62 Cap. incertum I 257, c. 2.
63 Nach Cap. Suession. c. 9, LL I 419 haben die Bischöfe das Recht, Kolo-
nen zur Pönitenz wider ihren Willen zu peitschen oder peitschen zu lassen. Die
Senioren, die sie solcher Zucht entziehen wollen, zahlen den Königsbann und er-
dulden neben der Exkommunikation eine vom König arbiträr bestimmte Strafe
(Harmschar).
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[325/0343] § 96. Die Kirche. von Karl dem Groſsen aufs neue eingeschärft worden, kam aber unter seinen Nachfolgern auſser Gebrauch. Erzbischof Hinkmar von Reims schrieb dreist an Karl den Kahlen i. J. 868, Karl der Groſse habe jenes Verbot aufgehoben 57. Ein westfränkisches Kapitular v. J. 877 setzt die Entbehrlichkeit der königlichen Erlaubnis zum Eintritt in den geistlichen Stand voraus 58. Je mehr die Kirche ihre Abhängigkeit vom Königtum lockerte, desto rücksichtsloser nahm sie ihrerseits das brachium seculare für ihre Zwecke in Anspruch. Die Synode von Meaux-Paris v. J. 845/6 ver- langte, daſs der König unter Brief und Siegel jedem Bischof eine Voll- macht gebe, welche ihm ganz allgemein auf sein jeweiliges Verlangen das weltliche Beamtentum zur Verfügung stelle 59. Dazu hat sich denn freilich selbst Karl der Kahle nicht herbeigelassen, wenn er auch so weit ging, wenigstens in Italien jedem Bischof für seinen Sprengel die Gewalt eines ständigen königlichen Missus zu verleihen 60, und die Grafen und Vassallen allgemein anwies, wo sie irgend können, die Bischöfe in ihrer amtlichen Thätigkeit zu unterstützen 61. Ein Kapi- tular unbestimmten Ursprungs, welches wohl der spätkarolingischen Zeit und Westfrancien angehört, läſst die Missi und die Bischöfe dafür sorgen, daſs dem Volke die Kunst, zu beten und das Kreuz zu schlagen, durch Prügel und Fasten beigebracht werde. Darin soll der Graf den Bischof unterstützen, sofern ihm die Huld des Königs lieb sei 62. Extensiv und intensiv entwickelte sich die kirchliche Disziplinar- und Gerichtsgewalt über Laien wegen Sünden und kirchlicher Ver- gehen 63. In Anlehnung an das weltliche Rügeverfahren entstand im fränkischen Reiche das eigenartige Verfahren der geistlichen Send- gerichte, wie es uns um die Wende des neunten und zehnten Jahr- hunderts in voller Ausbildung quellenmäſsig vorliegt. Um das Er- scheinen vor dem geistlichen Richter und die Erfüllung der auferlegten 57 Loening, Kirchenrecht II 171, Anm. 1. 58 Cap. Caris. c. 10, Pertz, LL I 539. 59 Mansi XIV 836, c. 71: auctoritatem sigillo regio roboratam more tractoriae (siehe oben S. 231). 60 Siehe oben S. 196. 61 Cap. Papiense v. J. 876, c. 12, II 103. 62 Cap. incertum I 257, c. 2. 63 Nach Cap. Suession. c. 9, LL I 419 haben die Bischöfe das Recht, Kolo- nen zur Pönitenz wider ihren Willen zu peitschen oder peitschen zu lassen. Die Senioren, die sie solcher Zucht entziehen wollen, zahlen den Königsbann und er- dulden neben der Exkommunikation eine vom König arbiträr bestimmte Strafe (Harmschar).

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/343>, abgerufen am 22.11.2024.