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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 94. Die Immunität.

Freiheitsprozesse, durch welche die Freiheit eines Hintersassen,
sei es nun vom Immunitätsherrn selbst oder von einem der Immuni-
tätsleute oder von einem Dritten, in Frage gestellt wurde, mussten
im Grafengerichte erledigt werden66, mindestens seit sie der Kompe-
tenz des Unterrichters entzogen worden waren67. Zu Streitigkeiten
um echtes Grundeigentum war bei Hintersassen selbstverständlich kein
Anlass vorhanden.

Causae minores, die unter Immunitätsleuten vorkamen, entschied
das Immunitätsgericht. Gegen Dritte mussten dahin gehörige An-
sprüche von den Immunitätsleuten im öffentlichen Gerichte verfolgt
werden, wobei sie die Vertretung des herrschaftlichen Vogtes in An-
spruch nehmen konnten. Bestritten ist es, wie es bei Klagen Dritter
gegen Immunitätsleute gehalten wurde. Manche meinen, dass der Be-
langte mit dem Vogte der Immunität vor dem öffentlichen Richter zu
Recht stehen musste68, während nach einer anderen Ansicht der Dritte
sich zunächst an den Immunitätsherrn oder dessen Vogt zu wenden
hatte, der dann die Sache im Immunitätsgerichte verhandeln liess69.
Mag erstere Meinung für die ältere Zeit zutreffend sein, so findet sich
doch schon in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, dass der
Dritte verpflichtet ist, zunächst den Immunitätsherrn oder dessen Vogt
anzugehen70. Spätestens seit dem neunten Jahrhundert war dies all-
gemeiner Grundsatz. Erst wenn der Dritte mit der Erledigung, welche
die Sache im Immunitätsgerichte fand, unzufrieden war oder wenn

barkeit über ihre Hintersassen; allein criminales actiones ad examen comitis
reserventur.
66 Zahlreiche Beispiele giebt Nissl, Gerichtsstand des Klerus 1886, S. 178,
Anm. 1--9.
67 Vgl. oben S. 179.
68 Nach Waitz, VG IV 451, soll dies bis circa 840 die Regel gewesen sein.
Allein Ludwig I. für Paris, Mühlbacher Nr. 683, handelt nur von der Pflicht, im
echten Ding des Grafen zu erscheinen, offenbar weil dieses für causae maiores
ausschliesslich kompetent war. Für causae minores hätte das Gericht des Cente-
nars genannt werden müssen. Die Urkunde für S. Croix de Poitiers v. J. 822,
Mühlbacher Nr. 737, bezieht sich auf Rechtshändel, welche die Kirche selbst
mit Dritten auszufechten hat.
69 Ausser Zweifel steht, dass dem Dritten dieser Weg freistand; fraglich ist
nur, ob er ihn umgehen konnte.
70 Die Urkunden für Metz und Trier schliessen ein condempnare durch den
öffentlichen Beamten aus. Vaissete Nr. 34 v. J. 815: nec ullus iudex publicus
illorum homines .. iudicare praesumat. Unter den Nachfolgern Ludwigs I. spre-
chen es die Immunitätsbriefe nicht selten direkt aus, dass die Immunitätsleute nur
vor dem Vogte belangt, nicht anderwärts gerichtet werden sollen. Siehe oben
S. 299, Anm. 60.
§ 94. Die Immunität.

Freiheitsprozesse, durch welche die Freiheit eines Hintersassen,
sei es nun vom Immunitätsherrn selbst oder von einem der Immuni-
tätsleute oder von einem Dritten, in Frage gestellt wurde, muſsten
im Grafengerichte erledigt werden66, mindestens seit sie der Kompe-
tenz des Unterrichters entzogen worden waren67. Zu Streitigkeiten
um echtes Grundeigentum war bei Hintersassen selbstverständlich kein
Anlaſs vorhanden.

Causae minores, die unter Immunitätsleuten vorkamen, entschied
das Immunitätsgericht. Gegen Dritte muſsten dahin gehörige An-
sprüche von den Immunitätsleuten im öffentlichen Gerichte verfolgt
werden, wobei sie die Vertretung des herrschaftlichen Vogtes in An-
spruch nehmen konnten. Bestritten ist es, wie es bei Klagen Dritter
gegen Immunitätsleute gehalten wurde. Manche meinen, daſs der Be-
langte mit dem Vogte der Immunität vor dem öffentlichen Richter zu
Recht stehen muſste68, während nach einer anderen Ansicht der Dritte
sich zunächst an den Immunitätsherrn oder dessen Vogt zu wenden
hatte, der dann die Sache im Immunitätsgerichte verhandeln lieſs69.
Mag erstere Meinung für die ältere Zeit zutreffend sein, so findet sich
doch schon in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, daſs der
Dritte verpflichtet ist, zunächst den Immunitätsherrn oder dessen Vogt
anzugehen70. Spätestens seit dem neunten Jahrhundert war dies all-
gemeiner Grundsatz. Erst wenn der Dritte mit der Erledigung, welche
die Sache im Immunitätsgerichte fand, unzufrieden war oder wenn

barkeit über ihre Hintersassen; allein criminales actiones ad examen comitis
reserventur.
66 Zahlreiche Beispiele giebt Niſsl, Gerichtsstand des Klerus 1886, S. 178,
Anm. 1—9.
67 Vgl. oben S. 179.
68 Nach Waitz, VG IV 451, soll dies bis circa 840 die Regel gewesen sein.
Allein Ludwig I. für Paris, Mühlbacher Nr. 683, handelt nur von der Pflicht, im
echten Ding des Grafen zu erscheinen, offenbar weil dieses für causae maiores
ausschlieſslich kompetent war. Für causae minores hätte das Gericht des Cente-
nars genannt werden müssen. Die Urkunde für S. Croix de Poitiers v. J. 822,
Mühlbacher Nr. 737, bezieht sich auf Rechtshändel, welche die Kirche selbst
mit Dritten auszufechten hat.
69 Auſser Zweifel steht, daſs dem Dritten dieser Weg freistand; fraglich ist
nur, ob er ihn umgehen konnte.
70 Die Urkunden für Metz und Trier schlieſsen ein condempnare durch den
öffentlichen Beamten aus. Vaissete Nr. 34 v. J. 815: nec ullus iudex publicus
illorum homines .. iudicare praesumat. Unter den Nachfolgern Ludwigs I. spre-
chen es die Immunitätsbriefe nicht selten direkt aus, daſs die Immunitätsleute nur
vor dem Vogte belangt, nicht anderwärts gerichtet werden sollen. Siehe oben
S. 299, Anm. 60.
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[301/0319] § 94. Die Immunität. Freiheitsprozesse, durch welche die Freiheit eines Hintersassen, sei es nun vom Immunitätsherrn selbst oder von einem der Immuni- tätsleute oder von einem Dritten, in Frage gestellt wurde, muſsten im Grafengerichte erledigt werden 66, mindestens seit sie der Kompe- tenz des Unterrichters entzogen worden waren 67. Zu Streitigkeiten um echtes Grundeigentum war bei Hintersassen selbstverständlich kein Anlaſs vorhanden. Causae minores, die unter Immunitätsleuten vorkamen, entschied das Immunitätsgericht. Gegen Dritte muſsten dahin gehörige An- sprüche von den Immunitätsleuten im öffentlichen Gerichte verfolgt werden, wobei sie die Vertretung des herrschaftlichen Vogtes in An- spruch nehmen konnten. Bestritten ist es, wie es bei Klagen Dritter gegen Immunitätsleute gehalten wurde. Manche meinen, daſs der Be- langte mit dem Vogte der Immunität vor dem öffentlichen Richter zu Recht stehen muſste 68, während nach einer anderen Ansicht der Dritte sich zunächst an den Immunitätsherrn oder dessen Vogt zu wenden hatte, der dann die Sache im Immunitätsgerichte verhandeln lieſs 69. Mag erstere Meinung für die ältere Zeit zutreffend sein, so findet sich doch schon in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, daſs der Dritte verpflichtet ist, zunächst den Immunitätsherrn oder dessen Vogt anzugehen 70. Spätestens seit dem neunten Jahrhundert war dies all- gemeiner Grundsatz. Erst wenn der Dritte mit der Erledigung, welche die Sache im Immunitätsgerichte fand, unzufrieden war oder wenn 65 66 Zahlreiche Beispiele giebt Niſsl, Gerichtsstand des Klerus 1886, S. 178, Anm. 1—9. 67 Vgl. oben S. 179. 68 Nach Waitz, VG IV 451, soll dies bis circa 840 die Regel gewesen sein. Allein Ludwig I. für Paris, Mühlbacher Nr. 683, handelt nur von der Pflicht, im echten Ding des Grafen zu erscheinen, offenbar weil dieses für causae maiores ausschlieſslich kompetent war. Für causae minores hätte das Gericht des Cente- nars genannt werden müssen. Die Urkunde für S. Croix de Poitiers v. J. 822, Mühlbacher Nr. 737, bezieht sich auf Rechtshändel, welche die Kirche selbst mit Dritten auszufechten hat. 69 Auſser Zweifel steht, daſs dem Dritten dieser Weg freistand; fraglich ist nur, ob er ihn umgehen konnte. 70 Die Urkunden für Metz und Trier schlieſsen ein condempnare durch den öffentlichen Beamten aus. Vaissete Nr. 34 v. J. 815: nec ullus iudex publicus illorum homines .. iudicare praesumat. Unter den Nachfolgern Ludwigs I. spre- chen es die Immunitätsbriefe nicht selten direkt aus, daſs die Immunitätsleute nur vor dem Vogte belangt, nicht anderwärts gerichtet werden sollen. Siehe oben S. 299, Anm. 60. 65 barkeit über ihre Hintersassen; allein criminales actiones ad examen comitis reserventur.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/319>, abgerufen am 25.11.2024.