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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 93. Die Grundherrlichkeit.
ziehung des Landes gegen den ungehorsamen Hintersassen ein äusserstes
Zwangsmittel, um ihn zum Rechte anzuhalten. Überdies scheint es
nicht selten geschehen zu sein, dass bei der Landleihe die Unter-
werfung unter die Gerichtsbarkeit des Grundherrn vertragsmässig be-
dungen wurde. Schon eine Precarienformel der westgotischen Formel-
sammlung enthält eine dahin gehende Klausel 35. In Italien begegnen
uns urkundliche Beispiele solcher Verträge seit Ludwig I. 36.

In Verfolgung von Ansprüchen gegen Dritte durften freie Leute
in obsequio vor dem öffentlichen Richter von dem Herrn oder seinem
Beamten vertreten oder verbeistandet werden. Auch freie Leute waren
'sperantes'. Selbstverständlich konnte davon keine Rede sein bei
Streitigkeiten unter freien sperantes desselben Herrn. Sollte sich
der Herr damit befassen, so musste die Vertretung durch seine Ent-
scheidung ersetzt werden.

Die interne Erledigung von Rechtssachen der Hintersassen ist der
Ausgangspunkt der grundherrlichen Gerichtsbarkeit. Da sie sich in
den Formen der öffentlichen Rechtspflege bewegte, war mit ihr der
Keim eines grundherrlichen Gerichtes gegeben. Öffentlichrechtliche
Anerkennung fand die grundherrliche Gerichtsbarkeit erst dadurch,
dass die Staatsgewalt es Dritten zur Pflicht machte, sich zunächst an
das Gericht des Grundherrn zu wenden, während die Jurisdiktion der
öffentlichen Gerichte auf den Fall der Justizverweigerung und des
Rechtszuges beschränkt wurde. Dazu ist es aber während der frän-
kischen Zeit im allgemeinen nicht gekommen.

Besondere Vorrechte und zwar solche, welche von der Verleihung
der Immunität unabhängig waren, erlangten die fränkischen Kirchen in
Ansehung aller Schutzhörigen oder doch gewisser Klassen 37. Das
Edikt Chlothars II. von 614 bestimmte, dass Streithändel zwischen
homines ecclesiae und dritten Personen vor dem öffentlichen Richter
unter richterlicher Mitwirkung des Kirchenbeamten entschieden wer-
den sollen 38. Doch ist die Einrichtung solcher sog. gemischter Gerichte
nicht lange in Kraft geblieben; sie wich augenscheinlich der Sitte,

35 Form. Wisig. Nr. 36, Zeumer S. 591: responsum ad defendendum me pro-
mitto afferre.
36 E. Loening, Kirchenrecht, führt II 745 eine Anzahl von Beispielen an.
37 Wilhelm Sickel, Mitth. d. Instituts f. österr. Gf. 2. Ergänzungsband,
S. 207 ff.
38 Cap. I 21, c. 5: quod si causa inter personam publicam et hominibus
eccleciae steterit, pariter ab utraque partem praepositi ecclesiarum et iudex publi-
cus in audientia publica positi eos debeant iudicare. Vgl. Nissl, Gerichtsstand
es Klerus im fränkischen Reich 1886, S. 202 f.

§ 93. Die Grundherrlichkeit.
ziehung des Landes gegen den ungehorsamen Hintersassen ein äuſserstes
Zwangsmittel, um ihn zum Rechte anzuhalten. Überdies scheint es
nicht selten geschehen zu sein, daſs bei der Landleihe die Unter-
werfung unter die Gerichtsbarkeit des Grundherrn vertragsmäſsig be-
dungen wurde. Schon eine Precarienformel der westgotischen Formel-
sammlung enthält eine dahin gehende Klausel 35. In Italien begegnen
uns urkundliche Beispiele solcher Verträge seit Ludwig I. 36.

In Verfolgung von Ansprüchen gegen Dritte durften freie Leute
in obsequio vor dem öffentlichen Richter von dem Herrn oder seinem
Beamten vertreten oder verbeistandet werden. Auch freie Leute waren
‘sperantes’. Selbstverständlich konnte davon keine Rede sein bei
Streitigkeiten unter freien sperantes desselben Herrn. Sollte sich
der Herr damit befassen, so muſste die Vertretung durch seine Ent-
scheidung ersetzt werden.

Die interne Erledigung von Rechtssachen der Hintersassen ist der
Ausgangspunkt der grundherrlichen Gerichtsbarkeit. Da sie sich in
den Formen der öffentlichen Rechtspflege bewegte, war mit ihr der
Keim eines grundherrlichen Gerichtes gegeben. Öffentlichrechtliche
Anerkennung fand die grundherrliche Gerichtsbarkeit erst dadurch,
daſs die Staatsgewalt es Dritten zur Pflicht machte, sich zunächst an
das Gericht des Grundherrn zu wenden, während die Jurisdiktion der
öffentlichen Gerichte auf den Fall der Justizverweigerung und des
Rechtszuges beschränkt wurde. Dazu ist es aber während der frän-
kischen Zeit im allgemeinen nicht gekommen.

Besondere Vorrechte und zwar solche, welche von der Verleihung
der Immunität unabhängig waren, erlangten die fränkischen Kirchen in
Ansehung aller Schutzhörigen oder doch gewisser Klassen 37. Das
Edikt Chlothars II. von 614 bestimmte, daſs Streithändel zwischen
homines ecclesiae und dritten Personen vor dem öffentlichen Richter
unter richterlicher Mitwirkung des Kirchenbeamten entschieden wer-
den sollen 38. Doch ist die Einrichtung solcher sog. gemischter Gerichte
nicht lange in Kraft geblieben; sie wich augenscheinlich der Sitte,

35 Form. Wisig. Nr. 36, Zeumer S. 591: responsum ad defendendum me pro-
mitto afferre.
36 E. Loening, Kirchenrecht, führt II 745 eine Anzahl von Beispielen an.
37 Wilhelm Sickel, Mitth. d. Instituts f. österr. Gf. 2. Ergänzungsband,
S. 207 ff.
38 Cap. I 21, c. 5: quod si causa inter personam publicam et hominibus
eccleciae steterit, pariter ab utraque partem praepositi ecclesiarum et iudex publi-
cus in audientia publica positi eos debeant iudicare. Vgl. Nissl, Gerichtsstand
es Klerus im fränkischen Reich 1886, S. 202 f.
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[283/0301] § 93. Die Grundherrlichkeit. ziehung des Landes gegen den ungehorsamen Hintersassen ein äuſserstes Zwangsmittel, um ihn zum Rechte anzuhalten. Überdies scheint es nicht selten geschehen zu sein, daſs bei der Landleihe die Unter- werfung unter die Gerichtsbarkeit des Grundherrn vertragsmäſsig be- dungen wurde. Schon eine Precarienformel der westgotischen Formel- sammlung enthält eine dahin gehende Klausel 35. In Italien begegnen uns urkundliche Beispiele solcher Verträge seit Ludwig I. 36. In Verfolgung von Ansprüchen gegen Dritte durften freie Leute in obsequio vor dem öffentlichen Richter von dem Herrn oder seinem Beamten vertreten oder verbeistandet werden. Auch freie Leute waren ‘sperantes’. Selbstverständlich konnte davon keine Rede sein bei Streitigkeiten unter freien sperantes desselben Herrn. Sollte sich der Herr damit befassen, so muſste die Vertretung durch seine Ent- scheidung ersetzt werden. Die interne Erledigung von Rechtssachen der Hintersassen ist der Ausgangspunkt der grundherrlichen Gerichtsbarkeit. Da sie sich in den Formen der öffentlichen Rechtspflege bewegte, war mit ihr der Keim eines grundherrlichen Gerichtes gegeben. Öffentlichrechtliche Anerkennung fand die grundherrliche Gerichtsbarkeit erst dadurch, daſs die Staatsgewalt es Dritten zur Pflicht machte, sich zunächst an das Gericht des Grundherrn zu wenden, während die Jurisdiktion der öffentlichen Gerichte auf den Fall der Justizverweigerung und des Rechtszuges beschränkt wurde. Dazu ist es aber während der frän- kischen Zeit im allgemeinen nicht gekommen. Besondere Vorrechte und zwar solche, welche von der Verleihung der Immunität unabhängig waren, erlangten die fränkischen Kirchen in Ansehung aller Schutzhörigen oder doch gewisser Klassen 37. Das Edikt Chlothars II. von 614 bestimmte, daſs Streithändel zwischen homines ecclesiae und dritten Personen vor dem öffentlichen Richter unter richterlicher Mitwirkung des Kirchenbeamten entschieden wer- den sollen 38. Doch ist die Einrichtung solcher sog. gemischter Gerichte nicht lange in Kraft geblieben; sie wich augenscheinlich der Sitte, 35 Form. Wisig. Nr. 36, Zeumer S. 591: responsum ad defendendum me pro- mitto afferre. 36 E. Loening, Kirchenrecht, führt II 745 eine Anzahl von Beispielen an. 37 Wilhelm Sickel, Mitth. d. Instituts f. österr. Gf. 2. Ergänzungsband, S. 207 ff. 38 Cap. I 21, c. 5: quod si causa inter personam publicam et hominibus eccleciae steterit, pariter ab utraque partem praepositi ecclesiarum et iudex publi- cus in audientia publica positi eos debeant iudicare. Vgl. Nissl, Gerichtsstand es Klerus im fränkischen Reich 1886, S. 202 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/301>, abgerufen am 22.11.2024.