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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.
Gericht, und der Defensor ist der Missus des Grafen 5. Im Jahre 804
erscheinen zu Angers der Defensor vel cuncta curia 6. Aber in den
Unterschriften des Aktes werden der Comes und zwei Centenare genannt
und entpuppt sich der Defensor als ein vicedominus 7. Zudem zeigen
schon die ältesten fränkischen Formelsammlungen bedenkliche Miss-
verständnisse des überlieferten römischen Formulars 8, und bereits eine
der formulae Andegavenses verrät die Tendenz, das Gericht als Re-
präsentanten der Kurie zu betrachten 9. Lässt sich zwar für das sechste
und siebente Jahrhundert der örtliche Fortbestand der Kurie nicht
bestreiten, so muss doch damals der Verfall der Einrichtung schon
begonnen haben 10. Wie lange sie in wirklicher Existenz fortlebte,
bleibt zweifelhaft. Wahrscheinlich war die Entwicklung in den ver-
schiedenen Gegenden des Frankenreiches eine verschiedene. In Chur-
rhätien versteht die Lex Romana Curiensis unter den Curialen ent-
weder Zinsbauern oder Beamte der Hofverfassung 11. Was Gallien
betrifft, so war wohl schon die Kurie der Formeln des achten Jahr-
hunderts mitunter nichts anderes als eine Gerichtsversammlung unter
Vorsitz eines Richters, der ad hoc sich defensor nannte 12.


5 Derselbe Fredelo erscheint in Germer-Durand Nr. 33 als missus Raimundo
comite, in Nr. 26 (H. 472) als vasso Regemundo comite.
6 Beyer, Mrh. UB I 49, Nr. 42.
7 Es ist nicht sicher, ob darunter ein vicedominus des Grafen, also ein vice-
comes, der freilich unter jenem Namen in Angers sonst nicht nachgewiesen wer-
den kann, oder ein vicedominus der Kirche zu verstehen sei.
8 In formula Andeg. 1 wird ein magister militum genannt, vielleicht ein durch
den magister census in Cod. Theod. VIII 12, 8 entstandenes Missverständnis. Übri-
gens finden sich in form. Wisig. 25 neben zwei principales und dem curator zwei
magistri. Über die vilitas curialium in Marc. II 3, die man aus Cod. Theod. l. c.
zu erklären sucht, vgl. meine RG d. Urk. S. 142. Der regalis in form. Arvern. 1
verdankt seine Entstehung wohl einem Missverständnis des principalis, bei dem
man der Thatsache Rechnung tragen wollte, dass der fränkische princeps ein
rex war.
9 In form. Andeg. 32 heisst es zu Anfang, dass der Beschädigte Anzeige er-
statten müsse bei den rectores civium seu curialis provinciae. Allein das Forum,
vor welchem die Anzeige geschieht, ist eine Versammlung unter Vorsitz des Grafen
und des Bischofs. In der entsprechenden form. Turon. 28 wird Eingangs die
curia publica mit dem Defensor genannt, aber im weiteren Kontext die nähere Be-
zeichnung des Forums vermieden, vor welchem die Anzeige des Urkundenverlustes
geschah. Siehe Zeumer a. O. S. 103.
10 Die provenzalischen Fragmente (siehe oben I 325) sagen c. 15: donatio
ipsa ante curiales deferatur. Quod si in civitate eadem curiales non possunt in-
veniri, ad aliam civitatem, ubi inveniantur, deferatur. Vgl. Edictum Theoderici c. 52.
11 Siehe Zeumer in Z2 f. RG IX 19.
12 Während ältere Formeln, so Marc. II 38, Andeg. 1, Wisig. 25, die Auf-

§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.
Gericht, und der Defensor ist der Missus des Grafen 5. Im Jahre 804
erscheinen zu Angers der Defensor vel cuncta curia 6. Aber in den
Unterschriften des Aktes werden der Comes und zwei Centenare genannt
und entpuppt sich der Defensor als ein vicedominus 7. Zudem zeigen
schon die ältesten fränkischen Formelsammlungen bedenkliche Miſs-
verständnisse des überlieferten römischen Formulars 8, und bereits eine
der formulae Andegavenses verrät die Tendenz, das Gericht als Re-
präsentanten der Kurie zu betrachten 9. Läſst sich zwar für das sechste
und siebente Jahrhundert der örtliche Fortbestand der Kurie nicht
bestreiten, so muſs doch damals der Verfall der Einrichtung schon
begonnen haben 10. Wie lange sie in wirklicher Existenz fortlebte,
bleibt zweifelhaft. Wahrscheinlich war die Entwicklung in den ver-
schiedenen Gegenden des Frankenreiches eine verschiedene. In Chur-
rhätien versteht die Lex Romana Curiensis unter den Curialen ent-
weder Zinsbauern oder Beamte der Hofverfassung 11. Was Gallien
betrifft, so war wohl schon die Kurie der Formeln des achten Jahr-
hunderts mitunter nichts anderes als eine Gerichtsversammlung unter
Vorsitz eines Richters, der ad hoc sich defensor nannte 12.


5 Derselbe Fredelo erscheint in Germer-Durand Nr. 33 als missus Raimundo
comite, in Nr. 26 (H. 472) als vasso Regemundo comite.
6 Beyer, Mrh. UB I 49, Nr. 42.
7 Es ist nicht sicher, ob darunter ein vicedominus des Grafen, also ein vice-
comes, der freilich unter jenem Namen in Angers sonst nicht nachgewiesen wer-
den kann, oder ein vicedominus der Kirche zu verstehen sei.
8 In formula Andeg. 1 wird ein magister militum genannt, vielleicht ein durch
den magister census in Cod. Theod. VIII 12, 8 entstandenes Miſsverständnis. Übri-
gens finden sich in form. Wisig. 25 neben zwei principales und dem curator zwei
magistri. Über die vilitas curialium in Marc. II 3, die man aus Cod. Theod. l. c.
zu erklären sucht, vgl. meine RG d. Urk. S. 142. Der regalis in form. Arvern. 1
verdankt seine Entstehung wohl einem Miſsverständnis des principalis, bei dem
man der Thatsache Rechnung tragen wollte, daſs der fränkische princeps ein
rex war.
9 In form. Andeg. 32 heiſst es zu Anfang, daſs der Beschädigte Anzeige er-
statten müsse bei den rectores civium seu curialis provinciae. Allein das Forum,
vor welchem die Anzeige geschieht, ist eine Versammlung unter Vorsitz des Grafen
und des Bischofs. In der entsprechenden form. Turon. 28 wird Eingangs die
curia publica mit dem Defensor genannt, aber im weiteren Kontext die nähere Be-
zeichnung des Forums vermieden, vor welchem die Anzeige des Urkundenverlustes
geschah. Siehe Zeumer a. O. S. 103.
10 Die provenzalischen Fragmente (siehe oben I 325) sagen c. 15: donatio
ipsa ante curiales deferatur. Quod si in civitate eadem curiales non possunt in-
veniri, ad aliam civitatem, ubi inveniantur, deferatur. Vgl. Edictum Theoderici c. 52.
11 Siehe Zeumer in Z2 f. RG IX 19.
12 Während ältere Formeln, so Marc. II 38, Andeg. 1, Wisig. 25, die Auf-
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[199/0217] § 86. Reste der römischen Städteverfassung. Gericht, und der Defensor ist der Missus des Grafen 5. Im Jahre 804 erscheinen zu Angers der Defensor vel cuncta curia 6. Aber in den Unterschriften des Aktes werden der Comes und zwei Centenare genannt und entpuppt sich der Defensor als ein vicedominus 7. Zudem zeigen schon die ältesten fränkischen Formelsammlungen bedenkliche Miſs- verständnisse des überlieferten römischen Formulars 8, und bereits eine der formulae Andegavenses verrät die Tendenz, das Gericht als Re- präsentanten der Kurie zu betrachten 9. Läſst sich zwar für das sechste und siebente Jahrhundert der örtliche Fortbestand der Kurie nicht bestreiten, so muſs doch damals der Verfall der Einrichtung schon begonnen haben 10. Wie lange sie in wirklicher Existenz fortlebte, bleibt zweifelhaft. Wahrscheinlich war die Entwicklung in den ver- schiedenen Gegenden des Frankenreiches eine verschiedene. In Chur- rhätien versteht die Lex Romana Curiensis unter den Curialen ent- weder Zinsbauern oder Beamte der Hofverfassung 11. Was Gallien betrifft, so war wohl schon die Kurie der Formeln des achten Jahr- hunderts mitunter nichts anderes als eine Gerichtsversammlung unter Vorsitz eines Richters, der ad hoc sich defensor nannte 12. 5 Derselbe Fredelo erscheint in Germer-Durand Nr. 33 als missus Raimundo comite, in Nr. 26 (H. 472) als vasso Regemundo comite. 6 Beyer, Mrh. UB I 49, Nr. 42. 7 Es ist nicht sicher, ob darunter ein vicedominus des Grafen, also ein vice- comes, der freilich unter jenem Namen in Angers sonst nicht nachgewiesen wer- den kann, oder ein vicedominus der Kirche zu verstehen sei. 8 In formula Andeg. 1 wird ein magister militum genannt, vielleicht ein durch den magister census in Cod. Theod. VIII 12, 8 entstandenes Miſsverständnis. Übri- gens finden sich in form. Wisig. 25 neben zwei principales und dem curator zwei magistri. Über die vilitas curialium in Marc. II 3, die man aus Cod. Theod. l. c. zu erklären sucht, vgl. meine RG d. Urk. S. 142. Der regalis in form. Arvern. 1 verdankt seine Entstehung wohl einem Miſsverständnis des principalis, bei dem man der Thatsache Rechnung tragen wollte, daſs der fränkische princeps ein rex war. 9 In form. Andeg. 32 heiſst es zu Anfang, daſs der Beschädigte Anzeige er- statten müsse bei den rectores civium seu curialis provinciae. Allein das Forum, vor welchem die Anzeige geschieht, ist eine Versammlung unter Vorsitz des Grafen und des Bischofs. In der entsprechenden form. Turon. 28 wird Eingangs die curia publica mit dem Defensor genannt, aber im weiteren Kontext die nähere Be- zeichnung des Forums vermieden, vor welchem die Anzeige des Urkundenverlustes geschah. Siehe Zeumer a. O. S. 103. 10 Die provenzalischen Fragmente (siehe oben I 325) sagen c. 15: donatio ipsa ante curiales deferatur. Quod si in civitate eadem curiales non possunt in- veniri, ad aliam civitatem, ubi inveniantur, deferatur. Vgl. Edictum Theoderici c. 52. 11 Siehe Zeumer in Z2 f. RG IX 19. 12 Während ältere Formeln, so Marc. II 38, Andeg. 1, Wisig. 25, die Auf-

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/217>, abgerufen am 24.11.2024.