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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 80. Das Herzogtum.
ribuarische Volksrecht kennt den Patricius. Im Range geht er dem
Herzoge vor. Der Titel bildet eine Reminiscenz aus römischer und
ostgotischer Zeit 16, ist aber nicht Rangtitel geblieben, sondern Amts-
titel geworden. Es giebt eine accio patriciatus, wie es eine accio
ducatus und comitiae giebt 17.

Seit dem siebenten Jahrhundert lockert sich die straffe Unter-
ordnung des Herzogtums unter die königliche Gewalt. Wo der Ab-
sonderungstrieb der Stämme den Unabhängigkeitsgelüsten der Herzoge
zu statten kam, vermochten sie eine rechtlich anerkannte Selbständig-
keit zu gewinnen, die sie über die Stellung von königlichen Beamten
emporhob, ohne die Oberhoheit des Königs völlig zu beseitigen. Man
kann die herzogliche Gewalt, welche die Schranken des Amtes ge-
sprengt hat, als Stammesherzogtum bezeichnen.

In der zweiten Hälfte des siebenten und zu Anfang des achten Jahr-
hunderts finden wir das Stammesherzogtum bei allen austrasischen
Stämmen. Zuerst erscheint es bei den Thüringern, welchen König
Dagobert I. den Herzog Radulf vorgesetzt hatte. Nach glücklichen
Kämpfen gegen die Wenden empörte sich Radulf gegen König Sigi-
bert II., besiegte ihn 641 und herrschte von da ab, als wenn er König
wäre, obwohl er die nominelle Oberhoheit des Merowingers noch an-
erkannte 18. Seine Nachkommen dehnten ihre Herrschaft nach Süden
über das Maingebiet aus; sie residierten zu Würzburg im Besitz einer
erblichen Gewalt 19. An der Auflehnung Radulfs hatten auch die
Baiern sich beteiligt 20. Von dieser Zeit dürfte wohl die grössere
Unabhängigkeit des bairischen Herzogtums zu datieren sein, das im
Geschlechte der Agilolfinger erblich war. Bei den Schwaben be-
gründete Herzog Godofrid in den letzten Jahrzehnten des siebenten
Jahrhunderts das erbliche Stammesherzogtum, indem er wie die übrigen

Verhältnis der herzoglichen Gerichtsbarkeit zur gräflichen zu verwerten. Unter
dem Patricius stehen in der Provence Beamte, welche priores heissen. Den prior
civitatis erwähnen die in der Provence entstandenen Fragmente c. 18 (vgl. oben
I 325). Er ist wohl ein Nachkomme des ostgotischen Truppenkommandanten,
welcher prior hiess (Mommsen, NA XIV 501) und nachmals insbesondere in Dal-
matien fortlebt (Du Cange-Henschel V 449).
16 Siehe oben S. 83, Anm. 1.
17 Marculf I 8. Greg. Tur. Hist. Franc. IV 24: Gunthramnus rex ... amoto
Agroecola patritio Celsum patriciatus honori donavit.
18 Fredegar IV 87: Radulfus superbia aelatus admodum, regem se in Toringia
esse cinsebat ... In verbis tamen Sigiberto regimini non denegans, nam in factis
fortiter eiusdem resistebat dominacionem.
19 Daniels, Handbuch I 576, Anm. 8. Waitz, VG II 2, S. 413.
20 Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reichs (714--741), 1869, S. 51.

§ 80. Das Herzogtum.
ribuarische Volksrecht kennt den Patricius. Im Range geht er dem
Herzoge vor. Der Titel bildet eine Reminiscenz aus römischer und
ostgotischer Zeit 16, ist aber nicht Rangtitel geblieben, sondern Amts-
titel geworden. Es giebt eine accio patriciatus, wie es eine accio
ducatus und comitiae giebt 17.

Seit dem siebenten Jahrhundert lockert sich die straffe Unter-
ordnung des Herzogtums unter die königliche Gewalt. Wo der Ab-
sonderungstrieb der Stämme den Unabhängigkeitsgelüsten der Herzoge
zu statten kam, vermochten sie eine rechtlich anerkannte Selbständig-
keit zu gewinnen, die sie über die Stellung von königlichen Beamten
emporhob, ohne die Oberhoheit des Königs völlig zu beseitigen. Man
kann die herzogliche Gewalt, welche die Schranken des Amtes ge-
sprengt hat, als Stammesherzogtum bezeichnen.

In der zweiten Hälfte des siebenten und zu Anfang des achten Jahr-
hunderts finden wir das Stammesherzogtum bei allen austrasischen
Stämmen. Zuerst erscheint es bei den Thüringern, welchen König
Dagobert I. den Herzog Radulf vorgesetzt hatte. Nach glücklichen
Kämpfen gegen die Wenden empörte sich Radulf gegen König Sigi-
bert II., besiegte ihn 641 und herrschte von da ab, als wenn er König
wäre, obwohl er die nominelle Oberhoheit des Merowingers noch an-
erkannte 18. Seine Nachkommen dehnten ihre Herrschaft nach Süden
über das Maingebiet aus; sie residierten zu Würzburg im Besitz einer
erblichen Gewalt 19. An der Auflehnung Radulfs hatten auch die
Baiern sich beteiligt 20. Von dieser Zeit dürfte wohl die gröſsere
Unabhängigkeit des bairischen Herzogtums zu datieren sein, das im
Geschlechte der Agilolfinger erblich war. Bei den Schwaben be-
gründete Herzog Godofrid in den letzten Jahrzehnten des siebenten
Jahrhunderts das erbliche Stammesherzogtum, indem er wie die übrigen

Verhältnis der herzoglichen Gerichtsbarkeit zur gräflichen zu verwerten. Unter
dem Patricius stehen in der Provence Beamte, welche priores heiſsen. Den prior
civitatis erwähnen die in der Provence entstandenen Fragmente c. 18 (vgl. oben
I 325). Er ist wohl ein Nachkomme des ostgotischen Truppenkommandanten,
welcher prior hieſs (Mommsen, NA XIV 501) und nachmals insbesondere in Dal-
matien fortlebt (Du Cange-Henschel V 449).
16 Siehe oben S. 83, Anm. 1.
17 Marculf I 8. Greg. Tur. Hist. Franc. IV 24: Gunthramnus rex … amoto
Agroecola patritio Celsum patriciatus honori donavit.
18 Fredegar IV 87: Radulfus superbia aelatus admodum, regem se in Toringia
esse cinsebat … In verbis tamen Sigiberto regimini non denegans, nam in factis
fortiter eiusdem resistebat dominacionem.
19 Daniels, Handbuch I 576, Anm. 8. Waitz, VG II 2, S. 413.
20 Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reichs (714—741), 1869, S. 51.
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[157/0175] § 80. Das Herzogtum. ribuarische Volksrecht kennt den Patricius. Im Range geht er dem Herzoge vor. Der Titel bildet eine Reminiscenz aus römischer und ostgotischer Zeit 16, ist aber nicht Rangtitel geblieben, sondern Amts- titel geworden. Es giebt eine accio patriciatus, wie es eine accio ducatus und comitiae giebt 17. Seit dem siebenten Jahrhundert lockert sich die straffe Unter- ordnung des Herzogtums unter die königliche Gewalt. Wo der Ab- sonderungstrieb der Stämme den Unabhängigkeitsgelüsten der Herzoge zu statten kam, vermochten sie eine rechtlich anerkannte Selbständig- keit zu gewinnen, die sie über die Stellung von königlichen Beamten emporhob, ohne die Oberhoheit des Königs völlig zu beseitigen. Man kann die herzogliche Gewalt, welche die Schranken des Amtes ge- sprengt hat, als Stammesherzogtum bezeichnen. In der zweiten Hälfte des siebenten und zu Anfang des achten Jahr- hunderts finden wir das Stammesherzogtum bei allen austrasischen Stämmen. Zuerst erscheint es bei den Thüringern, welchen König Dagobert I. den Herzog Radulf vorgesetzt hatte. Nach glücklichen Kämpfen gegen die Wenden empörte sich Radulf gegen König Sigi- bert II., besiegte ihn 641 und herrschte von da ab, als wenn er König wäre, obwohl er die nominelle Oberhoheit des Merowingers noch an- erkannte 18. Seine Nachkommen dehnten ihre Herrschaft nach Süden über das Maingebiet aus; sie residierten zu Würzburg im Besitz einer erblichen Gewalt 19. An der Auflehnung Radulfs hatten auch die Baiern sich beteiligt 20. Von dieser Zeit dürfte wohl die gröſsere Unabhängigkeit des bairischen Herzogtums zu datieren sein, das im Geschlechte der Agilolfinger erblich war. Bei den Schwaben be- gründete Herzog Godofrid in den letzten Jahrzehnten des siebenten Jahrhunderts das erbliche Stammesherzogtum, indem er wie die übrigen 15 16 Siehe oben S. 83, Anm. 1. 17 Marculf I 8. Greg. Tur. Hist. Franc. IV 24: Gunthramnus rex … amoto Agroecola patritio Celsum patriciatus honori donavit. 18 Fredegar IV 87: Radulfus superbia aelatus admodum, regem se in Toringia esse cinsebat … In verbis tamen Sigiberto regimini non denegans, nam in factis fortiter eiusdem resistebat dominacionem. 19 Daniels, Handbuch I 576, Anm. 8. Waitz, VG II 2, S. 413. 20 Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reichs (714—741), 1869, S. 51. 15 Verhältnis der herzoglichen Gerichtsbarkeit zur gräflichen zu verwerten. Unter dem Patricius stehen in der Provence Beamte, welche priores heiſsen. Den prior civitatis erwähnen die in der Provence entstandenen Fragmente c. 18 (vgl. oben I 325). Er ist wohl ein Nachkomme des ostgotischen Truppenkommandanten, welcher prior hieſs (Mommsen, NA XIV 501) und nachmals insbesondere in Dal- matien fortlebt (Du Cange-Henschel V 449).

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/175>, abgerufen am 28.11.2024.