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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 12. Das Haus.
Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Sippe hat nicht
etwa der Älteste eine patriarchalische Obergewalt über die Brüder.

Solange die Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung be-
stand und des baufähigen Landes im Überfluss vorhanden war, wurde
vermutlich jedem von den erwachsenen Söhnen eines verstorbenen
Dorfgenossen im Bedürfnisfalle eine Hufe zugewiesen, wenn er sich
als Hofbesitzer niederlassen wollte. Als die Dorfmarken nicht mehr
ausreichten und die Hufenzahl geschlossen werden musste, folgten die
Söhne dem Vater insgesamt in dessen hinterlassenen Grundbesitz.
Andere Verwandte werden nach salischem Recht noch bis in die
zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch das Heimfallsrecht
der Gemeinde ausgeschlossen58.

Über das älteste Erbrecht der Germanen besteht eine Reihe fun-
damentaler Streitfragen, die sich hauptsächlich darauf beziehen, wie
der Inhalt jüngerer Quellen mit den von Tacitus überlieferten Nach-
richten zu vereinigen sei. Es ist streitig, wie weit neben der durch
die Mutter vermittelten Verwandtschaft die väterlichen, die agnatischen
Verwandten ein Erbrecht an der Fahrhabe besassen. Es ist streitig,
wie sich der Erbenkreis der Hausgenossen zu dem der blossen Sippe-
genossen verhielt. Es ist streitig, wie in Fragen des Erbrechts die
Nähe der Verwandtschaft berechnet wurde und zur Geltung kam.
Aus methodischen Gründen dürfte es sich empfehlen, von der Er-
ledigung dieser Streitfragen zunächst abzusehen und hier nur zu kon-
statieren, was uns über das Erbrecht der Germanen von Tacitus be-
richtet wird. Im Gegensatz zur römischen Sitte hebt er hervor, dass
Testamente den Germanen fremd waren. Jüngere Nachrichten be-
stätigen für das ältere Recht die allgemeine Unzulässigkeit letztwilliger
Verfügungen. Das Erbrecht war den Germanen ein Recht der Bluts-
verwandtschaft. Die Erben waren geborene, nicht gekorene, soweit
nicht die Adoption den Mangel an Leibeserben ersetzen konnte. Als
nächste Erben nennt Tacitus die Kinder des Verstorbenen, dann die

v. J. 818--19 c. 6, I 282 gestattet Vergabungen aus der ungeteilten Erbschaft. Der
Vergabende muss mindestens mündig sein. Dass die Söhne im Hause des Vaters
bis zum Tode desselben als pueri criniti gelebt hätten, ist nicht vorauszusetzen.
Denn die Wehrhaftmachung musste im öffentlichen Interesse jedem wehrfähigen
Jüngling, der freien und nicht geistlichen Standes war, zuteil werden, sobald er
die physische Reife hatte. Wäre die Wehrhaftmachung Emanzipation, so schiede
sie den Emanzipierten aus dem väterlichen Hause und würde eine ökonomische
Selbständigkeit voraussetzen, mit der sich der Eintritt in ganerbschaftliche Verhält-
nisse nach des Vaters Tod nicht wohl vereinigen lässt.
58 S. unten § 25.

§ 12. Das Haus.
Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Sippe hat nicht
etwa der Älteste eine patriarchalische Obergewalt über die Brüder.

Solange die Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung be-
stand und des baufähigen Landes im Überfluſs vorhanden war, wurde
vermutlich jedem von den erwachsenen Söhnen eines verstorbenen
Dorfgenossen im Bedürfnisfalle eine Hufe zugewiesen, wenn er sich
als Hofbesitzer niederlassen wollte. Als die Dorfmarken nicht mehr
ausreichten und die Hufenzahl geschlossen werden muſste, folgten die
Söhne dem Vater insgesamt in dessen hinterlassenen Grundbesitz.
Andere Verwandte werden nach salischem Recht noch bis in die
zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch das Heimfallsrecht
der Gemeinde ausgeschlossen58.

Über das älteste Erbrecht der Germanen besteht eine Reihe fun-
damentaler Streitfragen, die sich hauptsächlich darauf beziehen, wie
der Inhalt jüngerer Quellen mit den von Tacitus überlieferten Nach-
richten zu vereinigen sei. Es ist streitig, wie weit neben der durch
die Mutter vermittelten Verwandtschaft die väterlichen, die agnatischen
Verwandten ein Erbrecht an der Fahrhabe besaſsen. Es ist streitig,
wie sich der Erbenkreis der Hausgenossen zu dem der bloſsen Sippe-
genossen verhielt. Es ist streitig, wie in Fragen des Erbrechts die
Nähe der Verwandtschaft berechnet wurde und zur Geltung kam.
Aus methodischen Gründen dürfte es sich empfehlen, von der Er-
ledigung dieser Streitfragen zunächst abzusehen und hier nur zu kon-
statieren, was uns über das Erbrecht der Germanen von Tacitus be-
richtet wird. Im Gegensatz zur römischen Sitte hebt er hervor, daſs
Testamente den Germanen fremd waren. Jüngere Nachrichten be-
stätigen für das ältere Recht die allgemeine Unzulässigkeit letztwilliger
Verfügungen. Das Erbrecht war den Germanen ein Recht der Bluts-
verwandtschaft. Die Erben waren geborene, nicht gekorene, soweit
nicht die Adoption den Mangel an Leibeserben ersetzen konnte. Als
nächste Erben nennt Tacitus die Kinder des Verstorbenen, dann die

v. J. 818—19 c. 6, I 282 gestattet Vergabungen aus der ungeteilten Erbschaft. Der
Vergabende muſs mindestens mündig sein. Daſs die Söhne im Hause des Vaters
bis zum Tode desselben als pueri criniti gelebt hätten, ist nicht vorauszusetzen.
Denn die Wehrhaftmachung muſste im öffentlichen Interesse jedem wehrfähigen
Jüngling, der freien und nicht geistlichen Standes war, zuteil werden, sobald er
die physische Reife hatte. Wäre die Wehrhaftmachung Emanzipation, so schiede
sie den Emanzipierten aus dem väterlichen Hause und würde eine ökonomische
Selbständigkeit voraussetzen, mit der sich der Eintritt in ganerbschaftliche Verhält-
nisse nach des Vaters Tod nicht wohl vereinigen läſst.
58 S. unten § 25.
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[79/0097] § 12. Das Haus. Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Sippe hat nicht etwa der Älteste eine patriarchalische Obergewalt über die Brüder. Solange die Feldgemeinschaft mit wechselnder Hufenordnung be- stand und des baufähigen Landes im Überfluſs vorhanden war, wurde vermutlich jedem von den erwachsenen Söhnen eines verstorbenen Dorfgenossen im Bedürfnisfalle eine Hufe zugewiesen, wenn er sich als Hofbesitzer niederlassen wollte. Als die Dorfmarken nicht mehr ausreichten und die Hufenzahl geschlossen werden muſste, folgten die Söhne dem Vater insgesamt in dessen hinterlassenen Grundbesitz. Andere Verwandte werden nach salischem Recht noch bis in die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch das Heimfallsrecht der Gemeinde ausgeschlossen 58. Über das älteste Erbrecht der Germanen besteht eine Reihe fun- damentaler Streitfragen, die sich hauptsächlich darauf beziehen, wie der Inhalt jüngerer Quellen mit den von Tacitus überlieferten Nach- richten zu vereinigen sei. Es ist streitig, wie weit neben der durch die Mutter vermittelten Verwandtschaft die väterlichen, die agnatischen Verwandten ein Erbrecht an der Fahrhabe besaſsen. Es ist streitig, wie sich der Erbenkreis der Hausgenossen zu dem der bloſsen Sippe- genossen verhielt. Es ist streitig, wie in Fragen des Erbrechts die Nähe der Verwandtschaft berechnet wurde und zur Geltung kam. Aus methodischen Gründen dürfte es sich empfehlen, von der Er- ledigung dieser Streitfragen zunächst abzusehen und hier nur zu kon- statieren, was uns über das Erbrecht der Germanen von Tacitus be- richtet wird. Im Gegensatz zur römischen Sitte hebt er hervor, daſs Testamente den Germanen fremd waren. Jüngere Nachrichten be- stätigen für das ältere Recht die allgemeine Unzulässigkeit letztwilliger Verfügungen. Das Erbrecht war den Germanen ein Recht der Bluts- verwandtschaft. Die Erben waren geborene, nicht gekorene, soweit nicht die Adoption den Mangel an Leibeserben ersetzen konnte. Als nächste Erben nennt Tacitus die Kinder des Verstorbenen, dann die 57 58 S. unten § 25. 57 v. J. 818—19 c. 6, I 282 gestattet Vergabungen aus der ungeteilten Erbschaft. Der Vergabende muſs mindestens mündig sein. Daſs die Söhne im Hause des Vaters bis zum Tode desselben als pueri criniti gelebt hätten, ist nicht vorauszusetzen. Denn die Wehrhaftmachung muſste im öffentlichen Interesse jedem wehrfähigen Jüngling, der freien und nicht geistlichen Standes war, zuteil werden, sobald er die physische Reife hatte. Wäre die Wehrhaftmachung Emanzipation, so schiede sie den Emanzipierten aus dem väterlichen Hause und würde eine ökonomische Selbständigkeit voraussetzen, mit der sich der Eintritt in ganerbschaftliche Verhält- nisse nach des Vaters Tod nicht wohl vereinigen läſst.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/97>, abgerufen am 23.11.2024.