Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 12. Das Haus.
väterlichen Hause leben37. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neu-
geborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden
solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein
Name gegeben worden38. Die Namengebung pflegte binnen neun
Nächten nach der Geburt zu erfolgen39 und war schon in heidnischer
Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegiessung verbunden40. Mit diesem
Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles
Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld
geschützt war41.

Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie
wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen42. Ebenso darf er
sie zur Strafe töten oder verkaufen43. Der Vater haftet für das
Hauskind, vertritt es vor Gericht44, schwört Eide für den in der
Were befindlichen Sohn45. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die
Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzu-
treten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner
durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindes-
statt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte,
was regelmässig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei
der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch
aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb-

37 Die Ausdrücke Degen, Knabe bezeichnen einerseits den puer, anderer-
seits den Diener. Knecht ist ursprünglich Knabe. Got. magus ist Knabe und
Knecht, angels. mago Sohn und Diener.
38 Nach einer Nachricht über die heidnischen Friesen war der Vater befugt,
das Kind zu töten oder töten zu lassen, so lange es keine Nahrung zu sich ge-
nommen hatte. Grimm, RA S 458. Lex Fris. 5 betrachtet nur die Tötung des
neugeborenen Kindes durch die Mutter für straflos.
39 Lex Sal. 24, 4; Rib. 36, 10. Vgl. Pact. Alam. 2, 31; Lex Al. Hloth. 79.
40 K. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der
bayr. Akad. XV 3. Abteil. 1880. Spuren dieser Sitte hat für die Westgermanen
Müllenhoff, Anzeiger f. DA VII 407 ff. nachgewiesen.
41 Ursprünglich mag die Namengebung und Taufe wohl auch die Erbfähigkeit
bedingt haben, und vermutlich ist es das Ergebnis einer jüngeren Rechtsbildung,
wenn sie nur von bestimmten Merkmalen der Lebensfähigkeit -- von der Annahme
der ersten Nahrung bei den Nordgermanen, von einer Stunde Leben und der Öff-
nung der Augen bei den Alamannen -- abhängig gemacht wird.
42 S. oben Anm 36. Edictum Pistense v. J. 864 c. 34. Theodorus, Cap. Dach.
c. 114 bei Wasserschleben, Bussordnungen S 155. Theod., Poenit. c. 13 a. O.
S 217. Weitere Belege und Litteratur bei Dargun a. O. S 49.
43 Rothari 221. Kraut, Vormundschaft I 46.
44 Greg. Tur. 8, 43. Cap. Worm. v. J. 829 c. 4. Pertz I 353.
45 Form. Andeg. 11.

§ 12. Das Haus.
väterlichen Hause leben37. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neu-
geborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden
solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein
Name gegeben worden38. Die Namengebung pflegte binnen neun
Nächten nach der Geburt zu erfolgen39 und war schon in heidnischer
Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegieſsung verbunden40. Mit diesem
Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles
Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld
geschützt war41.

Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie
wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen42. Ebenso darf er
sie zur Strafe töten oder verkaufen43. Der Vater haftet für das
Hauskind, vertritt es vor Gericht44, schwört Eide für den in der
Were befindlichen Sohn45. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die
Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzu-
treten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner
durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindes-
statt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte,
was regelmäſsig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei
der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch
aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb-

37 Die Ausdrücke Degen, Knabe bezeichnen einerseits den puer, anderer-
seits den Diener. Knecht ist ursprünglich Knabe. Got. magus ist Knabe und
Knecht, angels. mago Sohn und Diener.
38 Nach einer Nachricht über die heidnischen Friesen war der Vater befugt,
das Kind zu töten oder töten zu lassen, so lange es keine Nahrung zu sich ge-
nommen hatte. Grimm, RA S 458. Lex Fris. 5 betrachtet nur die Tötung des
neugeborenen Kindes durch die Mutter für straflos.
39 Lex Sal. 24, 4; Rib. 36, 10. Vgl. Pact. Alam. 2, 31; Lex Al. Hloth. 79.
40 K. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der
bayr. Akad. XV 3. Abteil. 1880. Spuren dieser Sitte hat für die Westgermanen
Müllenhoff, Anzeiger f. DA VII 407 ff. nachgewiesen.
41 Ursprünglich mag die Namengebung und Taufe wohl auch die Erbfähigkeit
bedingt haben, und vermutlich ist es das Ergebnis einer jüngeren Rechtsbildung,
wenn sie nur von bestimmten Merkmalen der Lebensfähigkeit — von der Annahme
der ersten Nahrung bei den Nordgermanen, von einer Stunde Leben und der Öff-
nung der Augen bei den Alamannen — abhängig gemacht wird.
42 S. oben Anm 36. Edictum Pistense v. J. 864 c. 34. Theodorus, Cap. Dach.
c. 114 bei Wasserschleben, Buſsordnungen S 155. Theod., Poenit. c. 13 a. O.
S 217. Weitere Belege und Litteratur bei Dargun a. O. S 49.
43 Rothari 221. Kraut, Vormundschaft I 46.
44 Greg. Tur. 8, 43. Cap. Worm. v. J. 829 c. 4. Pertz I 353.
45 Form. Andeg. 11.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0094" n="76"/><fw place="top" type="header">§ 12. Das Haus.</fw><lb/>
väterlichen Hause leben<note place="foot" n="37">Die Ausdrücke Degen, Knabe bezeichnen einerseits den puer, anderer-<lb/>
seits den Diener. Knecht ist ursprünglich Knabe. Got. magus ist Knabe und<lb/>
Knecht, angels. mago Sohn und Diener.</note>. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neu-<lb/>
geborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden<lb/>
solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein<lb/>
Name gegeben worden<note place="foot" n="38">Nach einer Nachricht über die heidnischen Friesen war der Vater befugt,<lb/>
das Kind zu töten oder töten zu lassen, so lange es keine Nahrung zu sich ge-<lb/>
nommen hatte. <hi rendition="#g">Grimm</hi>, RA S 458. Lex Fris. 5 betrachtet nur die Tötung des<lb/>
neugeborenen Kindes durch die Mutter für straflos.</note>. Die Namengebung pflegte binnen neun<lb/>
Nächten nach der Geburt zu erfolgen<note place="foot" n="39">Lex Sal. 24, 4; Rib. 36, 10. Vgl. Pact. Alam. 2, 31; Lex Al. Hloth. 79.</note> und war schon in heidnischer<lb/>
Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegie&#x017F;sung verbunden<note place="foot" n="40">K. <hi rendition="#g">Maurer</hi>, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der<lb/>
bayr. Akad. XV 3. Abteil. 1880. Spuren dieser Sitte hat für die Westgermanen<lb/><hi rendition="#g">Müllenhoff</hi>, Anzeiger f. DA VII 407 ff. nachgewiesen.</note>. Mit diesem<lb/>
Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles<lb/>
Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld<lb/>
geschützt war<note place="foot" n="41">Ursprünglich mag die Namengebung und Taufe wohl auch die Erbfähigkeit<lb/>
bedingt haben, und vermutlich ist es das Ergebnis einer jüngeren Rechtsbildung,<lb/>
wenn sie nur von bestimmten Merkmalen der Lebensfähigkeit &#x2014; von der Annahme<lb/>
der ersten Nahrung bei den Nordgermanen, von einer Stunde Leben und der Öff-<lb/>
nung der Augen bei den Alamannen &#x2014; abhängig gemacht wird.</note>.</p><lb/>
          <p>Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie<lb/>
wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen<note place="foot" n="42">S. oben Anm 36. Edictum Pistense v. J. 864 c. 34. Theodorus, Cap. Dach.<lb/>
c. 114 bei <hi rendition="#g">Wasserschleben</hi>, Bu&#x017F;sordnungen S 155. Theod., Poenit. c. 13 a. O.<lb/>
S 217. Weitere Belege und Litteratur bei <hi rendition="#g">Dargun</hi> a. O. S 49.</note>. Ebenso darf er<lb/>
sie zur Strafe töten oder verkaufen<note place="foot" n="43">Rothari 221. <hi rendition="#g">Kraut</hi>, Vormundschaft I 46.</note>. Der Vater haftet für das<lb/>
Hauskind, vertritt es vor Gericht<note place="foot" n="44">Greg. Tur. 8, 43. Cap. Worm. v. J. 829 c. 4. <hi rendition="#g">Pertz</hi> I 353.</note>, schwört Eide für den in der<lb/>
Were befindlichen Sohn<note place="foot" n="45">Form. Andeg. 11.</note>. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die<lb/>
Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzu-<lb/>
treten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner<lb/>
durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindes-<lb/>
statt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte,<lb/>
was regelmä&#x017F;sig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei<lb/>
der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch<lb/>
aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0094] § 12. Das Haus. väterlichen Hause leben 37. Des Vaters Wille entscheidet, ob das neu- geborene Kind in die Familie aufgenommen oder ausgesetzt werden solle. Die Aussetzung war gestattet bis zur Zeit da dem Kinde ein Name gegeben worden 38. Die Namengebung pflegte binnen neun Nächten nach der Geburt zu erfolgen 39 und war schon in heidnischer Zeit mit Wassertauche oder Wasserbegieſsung verbunden 40. Mit diesem Akte trat das Kind in seine volle Rechtsfähigkeit und in sein volles Wergeld ein, während es bis dahin nur durch ein halbes Wergeld geschützt war 41. Bezüglich der Kinder hat der Vater gleichfalls das Recht, sie wegen echter Not in die Unfreiheit zu verkaufen 42. Ebenso darf er sie zur Strafe töten oder verkaufen 43. Der Vater haftet für das Hauskind, vertritt es vor Gericht 44, schwört Eide für den in der Were befindlichen Sohn 45. Aus der väterlichen Gewalt scheiden die Töchter durch die Ehe aus, um in die Munt des Ehemannes einzu- treten, die Söhne durch Gründung eines selbständigen Haushalts, ferner durch Eintritt in eine Gefolgschaft und durch Annahme an Kindes- statt. Der Sohn, der die wirtschaftliche Selbständigkeit erlangte, was regelmäſsig bei der Verheiratung, mitunter aber nicht immer bei der Wehrhaftmachung geschah, scheidet wie aus dem Hause so auch aus der Munt des Vaters aus, er wird homo suae potestatis, selb- 37 Die Ausdrücke Degen, Knabe bezeichnen einerseits den puer, anderer- seits den Diener. Knecht ist ursprünglich Knabe. Got. magus ist Knabe und Knecht, angels. mago Sohn und Diener. 38 Nach einer Nachricht über die heidnischen Friesen war der Vater befugt, das Kind zu töten oder töten zu lassen, so lange es keine Nahrung zu sich ge- nommen hatte. Grimm, RA S 458. Lex Fris. 5 betrachtet nur die Tötung des neugeborenen Kindes durch die Mutter für straflos. 39 Lex Sal. 24, 4; Rib. 36, 10. Vgl. Pact. Alam. 2, 31; Lex Al. Hloth. 79. 40 K. Maurer, Über die Wasserweihe des germ. Heidentums, Abhandl. der bayr. Akad. XV 3. Abteil. 1880. Spuren dieser Sitte hat für die Westgermanen Müllenhoff, Anzeiger f. DA VII 407 ff. nachgewiesen. 41 Ursprünglich mag die Namengebung und Taufe wohl auch die Erbfähigkeit bedingt haben, und vermutlich ist es das Ergebnis einer jüngeren Rechtsbildung, wenn sie nur von bestimmten Merkmalen der Lebensfähigkeit — von der Annahme der ersten Nahrung bei den Nordgermanen, von einer Stunde Leben und der Öff- nung der Augen bei den Alamannen — abhängig gemacht wird. 42 S. oben Anm 36. Edictum Pistense v. J. 864 c. 34. Theodorus, Cap. Dach. c. 114 bei Wasserschleben, Buſsordnungen S 155. Theod., Poenit. c. 13 a. O. S 217. Weitere Belege und Litteratur bei Dargun a. O. S 49. 43 Rothari 221. Kraut, Vormundschaft I 46. 44 Greg. Tur. 8, 43. Cap. Worm. v. J. 829 c. 4. Pertz I 353. 45 Form. Andeg. 11.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/94
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/94>, abgerufen am 28.11.2024.