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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 6. Das deutsche Volk.
und das von Tacitus gezeichnete Bild des Volkes sichtlich unter-
scheiden. Die Veränderung ergriff zuerst die westlichen Völker-
schaften; etwas später machte sie sich bei den Sueben geltend, von
welchen die an den Rhein vorgerückten Schwärme mit Bewahrung
der alten Sitte zum Teil an die Elbe zurückgegangen waren. Die öst-
lichen Germanen, die Völker der gotisch-vandalischen Gruppe wichen
dem Aufgeben der gewohnten Lebensweise durch eine Wanderung
nach Südosten aus, welche einen Teil der Goten schliesslich an das
Schwarze Meer führte. Im Gegensatz zu den minder beweglichen
Bauernstämmen des Westens erscheinen bei der sogenannten Völker-
wanderung gerade diese östlichen Völkerschaften als die eigentlichen
Wanderstämme der Germanen.

Ethnographisch scheiden sich die Westgermanen oder Deutschen
von den Ostgermanen, welche aus der gotisch-vandalischen Völker-
gruppe und aus den skandinavischen oder nordgermanischen Stämmen
gebildet werden 3.

Weder unter den Deutschen noch unter den Ostgermanen besteht
ein staatsrechtlicher oder auch nur ein völkerrechtlicher Verband. Sie
sind vielmehr in eine grosse Zahl selbständiger Völkerschaften ge-
spalten. Diesem Mangel politischen Zusammenhanges entspricht der
Mangel eines gemeinsamen Namens, mit welchem das Volk sich be-
nannt hätte. Die Bezeichnung Germanen, vermutlich soviel wie
Nachbarn bedeutend, wurde ihm erst von den Galliern beigelegt und
dann von den Römern übernommen, welchen sie seit der Zeit der
Sklavenkriege bekannt ist, während sie bei den Germanen selbst nicht
üblich wurde. Das Wort "deutsch" begegnet uns erst in Schrift-
denkmälern vom Ende des 8. und vom Anfang des 9. Jahrhunderts, und
zwar zur Bezeichnung der Sprache. Es stammt von der Wurzel diet,
Volk (ahd. diot, got. thiuda) und wurde noch in fränkischer Zeit an-

3 Die engere Verwandtschaft der Goten und Skandinavier äussert sich in der
Sprache. Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, 2. Aufl. 1878, S 179 u. ö.
Zimmer, Ostgermanisch u. Westgermanisch, in d. Z f. deutsches Altertum XIX 461.
Sie äussert sich in der Gemeinsamkeit einzelner Völkerschaftsnamen. Grimm,
Gesch. der deutschen Sprache S 469. 699. 739. Munch (Claussen), Die nord.-germ.
Völker S 49. Jahn, Burgundionen I 4 Anm 1. 2. Sie äussert sich in einer ver-
einzelten historischen Thatsache. Wie Procop berichtet, zog ein Teil der Heruler
nach der Niederlage, die sie durch die Langobarden erlitten, unter der Führung
von Mitgliedern des Königsgeschlechtes durch die Gebiete der Slaven, Warnen und
Dänen an die Küste der Ostsee, wo sie sich einschifften, um nach Thule zu fahren
und sich dem Volke der Gauten anzuschliessen. Zeuss, Die Deutschen und ihre
Nachbarstämme S 481.

§ 6. Das deutsche Volk.
und das von Tacitus gezeichnete Bild des Volkes sichtlich unter-
scheiden. Die Veränderung ergriff zuerst die westlichen Völker-
schaften; etwas später machte sie sich bei den Sueben geltend, von
welchen die an den Rhein vorgerückten Schwärme mit Bewahrung
der alten Sitte zum Teil an die Elbe zurückgegangen waren. Die öst-
lichen Germanen, die Völker der gotisch-vandalischen Gruppe wichen
dem Aufgeben der gewohnten Lebensweise durch eine Wanderung
nach Südosten aus, welche einen Teil der Goten schlieſslich an das
Schwarze Meer führte. Im Gegensatz zu den minder beweglichen
Bauernstämmen des Westens erscheinen bei der sogenannten Völker-
wanderung gerade diese östlichen Völkerschaften als die eigentlichen
Wanderstämme der Germanen.

Ethnographisch scheiden sich die Westgermanen oder Deutschen
von den Ostgermanen, welche aus der gotisch-vandalischen Völker-
gruppe und aus den skandinavischen oder nordgermanischen Stämmen
gebildet werden 3.

Weder unter den Deutschen noch unter den Ostgermanen besteht
ein staatsrechtlicher oder auch nur ein völkerrechtlicher Verband. Sie
sind vielmehr in eine groſse Zahl selbständiger Völkerschaften ge-
spalten. Diesem Mangel politischen Zusammenhanges entspricht der
Mangel eines gemeinsamen Namens, mit welchem das Volk sich be-
nannt hätte. Die Bezeichnung Germanen, vermutlich soviel wie
Nachbarn bedeutend, wurde ihm erst von den Galliern beigelegt und
dann von den Römern übernommen, welchen sie seit der Zeit der
Sklavenkriege bekannt ist, während sie bei den Germanen selbst nicht
üblich wurde. Das Wort „deutsch“ begegnet uns erst in Schrift-
denkmälern vom Ende des 8. und vom Anfang des 9. Jahrhunderts, und
zwar zur Bezeichnung der Sprache. Es stammt von der Wurzel diet,
Volk (ahd. diot, got. thiuda) und wurde noch in fränkischer Zeit an-

3 Die engere Verwandtschaft der Goten und Skandinavier äuſsert sich in der
Sprache. Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, 2. Aufl. 1878, S 179 u. ö.
Zimmer, Ostgermanisch u. Westgermanisch, in d. Z f. deutsches Altertum XIX 461.
Sie äuſsert sich in der Gemeinsamkeit einzelner Völkerschaftsnamen. Grimm,
Gesch. der deutschen Sprache S 469. 699. 739. Munch (Clauſsen), Die nord.-germ.
Völker S 49. Jahn, Burgundionen I 4 Anm 1. 2. Sie äuſsert sich in einer ver-
einzelten historischen Thatsache. Wie Procop berichtet, zog ein Teil der Heruler
nach der Niederlage, die sie durch die Langobarden erlitten, unter der Führung
von Mitgliedern des Königsgeschlechtes durch die Gebiete der Slaven, Warnen und
Dänen an die Küste der Ostsee, wo sie sich einschifften, um nach Thule zu fahren
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Nachbarstämme S 481.
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[29/0047] § 6. Das deutsche Volk. und das von Tacitus gezeichnete Bild des Volkes sichtlich unter- scheiden. Die Veränderung ergriff zuerst die westlichen Völker- schaften; etwas später machte sie sich bei den Sueben geltend, von welchen die an den Rhein vorgerückten Schwärme mit Bewahrung der alten Sitte zum Teil an die Elbe zurückgegangen waren. Die öst- lichen Germanen, die Völker der gotisch-vandalischen Gruppe wichen dem Aufgeben der gewohnten Lebensweise durch eine Wanderung nach Südosten aus, welche einen Teil der Goten schlieſslich an das Schwarze Meer führte. Im Gegensatz zu den minder beweglichen Bauernstämmen des Westens erscheinen bei der sogenannten Völker- wanderung gerade diese östlichen Völkerschaften als die eigentlichen Wanderstämme der Germanen. Ethnographisch scheiden sich die Westgermanen oder Deutschen von den Ostgermanen, welche aus der gotisch-vandalischen Völker- gruppe und aus den skandinavischen oder nordgermanischen Stämmen gebildet werden 3. Weder unter den Deutschen noch unter den Ostgermanen besteht ein staatsrechtlicher oder auch nur ein völkerrechtlicher Verband. Sie sind vielmehr in eine groſse Zahl selbständiger Völkerschaften ge- spalten. Diesem Mangel politischen Zusammenhanges entspricht der Mangel eines gemeinsamen Namens, mit welchem das Volk sich be- nannt hätte. Die Bezeichnung Germanen, vermutlich soviel wie Nachbarn bedeutend, wurde ihm erst von den Galliern beigelegt und dann von den Römern übernommen, welchen sie seit der Zeit der Sklavenkriege bekannt ist, während sie bei den Germanen selbst nicht üblich wurde. Das Wort „deutsch“ begegnet uns erst in Schrift- denkmälern vom Ende des 8. und vom Anfang des 9. Jahrhunderts, und zwar zur Bezeichnung der Sprache. Es stammt von der Wurzel diet, Volk (ahd. diot, got. thiuda) und wurde noch in fränkischer Zeit an- 3 Die engere Verwandtschaft der Goten und Skandinavier äuſsert sich in der Sprache. Scherer, Zur Gesch. der deutschen Sprache, 2. Aufl. 1878, S 179 u. ö. Zimmer, Ostgermanisch u. Westgermanisch, in d. Z f. deutsches Altertum XIX 461. Sie äuſsert sich in der Gemeinsamkeit einzelner Völkerschaftsnamen. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache S 469. 699. 739. Munch (Clauſsen), Die nord.-germ. Völker S 49. Jahn, Burgundionen I 4 Anm 1. 2. Sie äuſsert sich in einer ver- einzelten historischen Thatsache. Wie Procop berichtet, zog ein Teil der Heruler nach der Niederlage, die sie durch die Langobarden erlitten, unter der Führung von Mitgliedern des Königsgeschlechtes durch die Gebiete der Slaven, Warnen und Dänen an die Küste der Ostsee, wo sie sich einschifften, um nach Thule zu fahren und sich dem Volke der Gauten anzuschlieſsen. Zeuſs, Die Deutschen und ihre Nachbarstämme S 481.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/47>, abgerufen am 11.12.2024.