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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 57. Die Urkunden.
Tenor der carta als solcher gekennzeichnet. Wesentlich ist der carta
eine Handlung des Ausstellers, welche firmatio genannt wird und darin
besteht, dass er die Urkunde unterschreibt oder mit seinem Hand-
zeichen (signum) versieht oder wenigstens durch Handauflegung be-
rührt 17. Zur firmatio des Ausstellers tritt dann die firmatio der
Zeugen hinzu, welche gleichfalls durch Unterschreiben, Signieren oder
Berühren der carta geschieht 18. Weil sie die Hand auf die Urkunde
legen, heissen die Zeugen gelegentlich manumissores. Öfter werden
sie firmatores genannt, ein Ausdruck, der auch den Aussteller in sich
begreifen kann. Die firmatio des Ausstellers oder der Zeugen oder
beider wird nicht selten am Schluss des Urkundentextes durch die
Klausel stipulatione, adstipulatione subnixa oder interposita angekün-
digt oder konstatiert. Das Wort stipulatio ist in dieser Anwendung
gleichbedeutend mit den gelegentlich dafür eintretenden Ausdrücken
firmatio, affirmatio, roboratio 19. Althochdeutsch heisst die stipulatio
im gedachten Sinne fastei oder festei oder fastinod 20. Für adstipulatio
begegnet uns auch ahd. urchundei 21, ags. cydnes 22 (Zeugnis). Alt-
hochdeutsche Glossen geben subscribere, signare und tangere mit
fastinon 23. Von der manufirmatio, der mittels der Hand erfolgenden

17 Brunner, RG der Urk. I 220. Zur Ergänzung sei auf die Urk. Bernard,
Chartes de Cluny I 46, Nr 39 v. J. 889 verwiesen, betr. die Veräusserung eines
Grundstücks durch Abraam, dessen Frau Leosberga und deren drei Kinder Wane-
rich, Amandus und Teotberga. Das Eschatokoll der Urkunde verzeichnet die signa
aller fünf Veräusserer als derjenigen, qui fieri et firmare rogaverunt. Die carta ist
aber nur von Amandus und Teotberga firmiert und Amandus verspricht, dass auch
die drei übrigen Veräusserer die carta firmieren würden, widrigenfalls er dem
Käufer den Kaufpreis zurückerstatten werde. Offenbar hatte der Schreiber schon
vor dem Urkundungsakte sämtliche signa samt den dazu gehörigen Namen der
Aussteller in die carta eingetragen, während bei der Begebung nur Amandus und
Teotberga zugegen waren. Da die von fremder Hand eingetragenen signa nicht
genügten, musste die nachträgliche firmatio des Abraam, der Leosberga und des
Wanerich durch "fides facta" versprochen werden.
18 Das Unterschreiben ist die seltene Ausnahme. In der Regel werden die
nomina testium, welche die carta enthalten muss, vom Urkundenschreiber ein-
getragen.
19 Brunner, RG der Urk. I 221 ff. Schröder in Hist. Z NF XII 507.
20 Fastei für stipulatio und chirographum bei Graff, Sprachschatz III 716.
Adstipulatione: festei bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 117, 24. Adstipulatione:
fastinode a. O. I 10, 23. Vgl. Graff III 723.
21 Graff, Sprachschatz IV 427.
22 Wright u. Wülcker, Anglosaxon Vocabularies I 343, 30. Vgl. 164, 40
gecydnes testimonium.
23 Subscripserunt: giuestinotun bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 108, 47.
Fastinon für signare und tangere bei Graff III 720. 722. Soweit noch ein Zweifel

§ 57. Die Urkunden.
Tenor der carta als solcher gekennzeichnet. Wesentlich ist der carta
eine Handlung des Ausstellers, welche firmatio genannt wird und darin
besteht, daſs er die Urkunde unterschreibt oder mit seinem Hand-
zeichen (signum) versieht oder wenigstens durch Handauflegung be-
rührt 17. Zur firmatio des Ausstellers tritt dann die firmatio der
Zeugen hinzu, welche gleichfalls durch Unterschreiben, Signieren oder
Berühren der carta geschieht 18. Weil sie die Hand auf die Urkunde
legen, heiſsen die Zeugen gelegentlich manumissores. Öfter werden
sie firmatores genannt, ein Ausdruck, der auch den Aussteller in sich
begreifen kann. Die firmatio des Ausstellers oder der Zeugen oder
beider wird nicht selten am Schluſs des Urkundentextes durch die
Klausel stipulatione, adstipulatione subnixa oder interposita angekün-
digt oder konstatiert. Das Wort stipulatio ist in dieser Anwendung
gleichbedeutend mit den gelegentlich dafür eintretenden Ausdrücken
firmatio, affirmatio, roboratio 19. Althochdeutsch heiſst die stipulatio
im gedachten Sinne fastî oder festî oder fastinôd 20. Für adstipulatio
begegnet uns auch ahd. urchundî 21, ags. cyđnes 22 (Zeugnis). Alt-
hochdeutsche Glossen geben subscribere, signare und tangere mit
fastinôn 23. Von der manufirmatio, der mittels der Hand erfolgenden

17 Brunner, RG der Urk. I 220. Zur Ergänzung sei auf die Urk. Bernard,
Chartes de Cluny I 46, Nr 39 v. J. 889 verwiesen, betr. die Veräuſserung eines
Grundstücks durch Abraam, dessen Frau Leosberga und deren drei Kinder Wane-
rich, Amandus und Teotberga. Das Eschatokoll der Urkunde verzeichnet die signa
aller fünf Veräuſserer als derjenigen, qui fieri et firmare rogaverunt. Die carta ist
aber nur von Amandus und Teotberga firmiert und Amandus verspricht, daſs auch
die drei übrigen Veräuſserer die carta firmieren würden, widrigenfalls er dem
Käufer den Kaufpreis zurückerstatten werde. Offenbar hatte der Schreiber schon
vor dem Urkundungsakte sämtliche signa samt den dazu gehörigen Namen der
Aussteller in die carta eingetragen, während bei der Begebung nur Amandus und
Teotberga zugegen waren. Da die von fremder Hand eingetragenen signa nicht
genügten, muſste die nachträgliche firmatio des Abraam, der Leosberga und des
Wanerich durch „fides facta“ versprochen werden.
18 Das Unterschreiben ist die seltene Ausnahme. In der Regel werden die
nomina testium, welche die carta enthalten muſs, vom Urkundenschreiber ein-
getragen.
19 Brunner, RG der Urk. I 221 ff. Schröder in Hist. Z NF XII 507.
20 Fastî für stipulatio und chirographum bei Graff, Sprachschatz III 716.
Adstipulatione: festî bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 117, 24. Adstipulatione:
fastinode a. O. I 10, 23. Vgl. Graff III 723.
21 Graff, Sprachschatz IV 427.
22 Wright u. Wülcker, Anglosaxon Vocabularies I 343, 30. Vgl. 164, 40
gecyđnes testimonium.
23 Subscripserunt: giuestinotun bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 108, 47.
Fastinôn für signare und tangere bei Graff III 720. 722. Soweit noch ein Zweifel
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[396/0414] § 57. Die Urkunden. Tenor der carta als solcher gekennzeichnet. Wesentlich ist der carta eine Handlung des Ausstellers, welche firmatio genannt wird und darin besteht, daſs er die Urkunde unterschreibt oder mit seinem Hand- zeichen (signum) versieht oder wenigstens durch Handauflegung be- rührt 17. Zur firmatio des Ausstellers tritt dann die firmatio der Zeugen hinzu, welche gleichfalls durch Unterschreiben, Signieren oder Berühren der carta geschieht 18. Weil sie die Hand auf die Urkunde legen, heiſsen die Zeugen gelegentlich manumissores. Öfter werden sie firmatores genannt, ein Ausdruck, der auch den Aussteller in sich begreifen kann. Die firmatio des Ausstellers oder der Zeugen oder beider wird nicht selten am Schluſs des Urkundentextes durch die Klausel stipulatione, adstipulatione subnixa oder interposita angekün- digt oder konstatiert. Das Wort stipulatio ist in dieser Anwendung gleichbedeutend mit den gelegentlich dafür eintretenden Ausdrücken firmatio, affirmatio, roboratio 19. Althochdeutsch heiſst die stipulatio im gedachten Sinne fastî oder festî oder fastinôd 20. Für adstipulatio begegnet uns auch ahd. urchundî 21, ags. cyđnes 22 (Zeugnis). Alt- hochdeutsche Glossen geben subscribere, signare und tangere mit fastinôn 23. Von der manufirmatio, der mittels der Hand erfolgenden 17 Brunner, RG der Urk. I 220. Zur Ergänzung sei auf die Urk. Bernard, Chartes de Cluny I 46, Nr 39 v. J. 889 verwiesen, betr. die Veräuſserung eines Grundstücks durch Abraam, dessen Frau Leosberga und deren drei Kinder Wane- rich, Amandus und Teotberga. Das Eschatokoll der Urkunde verzeichnet die signa aller fünf Veräuſserer als derjenigen, qui fieri et firmare rogaverunt. Die carta ist aber nur von Amandus und Teotberga firmiert und Amandus verspricht, daſs auch die drei übrigen Veräuſserer die carta firmieren würden, widrigenfalls er dem Käufer den Kaufpreis zurückerstatten werde. Offenbar hatte der Schreiber schon vor dem Urkundungsakte sämtliche signa samt den dazu gehörigen Namen der Aussteller in die carta eingetragen, während bei der Begebung nur Amandus und Teotberga zugegen waren. Da die von fremder Hand eingetragenen signa nicht genügten, muſste die nachträgliche firmatio des Abraam, der Leosberga und des Wanerich durch „fides facta“ versprochen werden. 18 Das Unterschreiben ist die seltene Ausnahme. In der Regel werden die nomina testium, welche die carta enthalten muſs, vom Urkundenschreiber ein- getragen. 19 Brunner, RG der Urk. I 221 ff. Schröder in Hist. Z NF XII 507. 20 Fastî für stipulatio und chirographum bei Graff, Sprachschatz III 716. Adstipulatione: festî bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 117, 24. Adstipulatione: fastinode a. O. I 10, 23. Vgl. Graff III 723. 21 Graff, Sprachschatz IV 427. 22 Wright u. Wülcker, Anglosaxon Vocabularies I 343, 30. Vgl. 164, 40 gecyđnes testimonium. 23 Subscripserunt: giuestinotun bei Steinmeyer, Ahd. Glossen II 108, 47. Fastinôn für signare und tangere bei Graff III 720. 722. Soweit noch ein Zweifel

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/414>, abgerufen am 22.11.2024.