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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 57. Die Urkunden.
Zeit hat es in diesem Sinne noch nicht angewendet. Vielmehr be-
deutet ahd. urchundo, alts. urcundeo den Zeugen, urchundei das
Zeugnis. Gemeingermanischer Ausdruck für das, was wir jetzt Ur-
kunde nennen, war Buch, ein Wort, welches ursprünglich im Singular
den Buchstaben, im Plural das Geschriebene bezeichnete und aus dem
Einritzen der Runen auf Buchenstäbe erklärt wird 5. Boka, bokos 6
verwendet schon das Gotische für Urkunde 7. Den Friesen und
Angelsachsen ist bocland, boklond bis in das zwölfte Jahrhundert das
durch Urkunde erworbene Land 8. Althochdeutsche Glossen und Ur-
kunden geben carta, cartula, epistola, litterae durch puoh, buoch 9.

Die Urkunden sind in Königsurkunden und in Privaturkunden zu
scheiden. Bei den Franken hat nur die Königsurkunde den Charakter
der wahren öffentlichen Urkunde, während in Italien ihn auch die
Gerichtsurkunde besitzt. Rechtlich zeichnet sich die Königsurkunde
vor der Privaturkunde dadurch aus, dass sie die Zeugen entbehren
kann und regelmässig entbehrt, während die Privaturkunde die Namen
von Zeugen nennen muss 10. Die Königsurkunde bedarf der Zeugen
nicht, weil sie nicht angefochten werden kann. Dagegen ist die
Privaturkunde im Wege der Urkundenschelte anfechtbar und müssen
im Falle der Anfechtung die Zeugen für die Wahrheit des Urkunden-
inhaltes eintreten.

Bis in den Ausgang des 14. Jahrh. reicht die Formel brief und urkund hinauf.
Sickel, UL S 2 Anm 3. Von Brief und Urkund sprechen noch die Kammer-
gerichtsordnung § 5 und der Landfriede § 6 von 1495. Urkunde für Brief, carta
taucht vereinzelt erst im 16. Jahrh. auf. Sickel a. O. Die Karolina spricht
(Art. 112) bei der Urkundenfälschung noch nicht von Urkunden, sondern von brieff
und instrument. "Briefliche Urkunden" hat das steir. Ldr. von 1574 in A. 80,
"schriftliche Urkunden" die böhmische Landesordnung von 1627 C 7.
5 Grimm, WB II 467. Kluge, Etym. WB S 41.
6 Plural von boka.
7 Frabauhtaboka, Verkaufsurkunde bei Bernhardt, Die gotische Bibel des
Vulfila nebst ... den Urkunden, 1884, S 218. Ausserdem bei Ulfilas vadjabokos,
Pfandbrief, Schuldschein, afstassais bokos Scheidebrief.
8 Brunner, Zur RG der Urk. S 151. 300.
9 Wartmann, St. Gall. UB. II Nr 621 v. J. 882: placuit inter nos cartam
pacationis ex utraque parte allevari, quod tiutiscae suonbuoch nominamus.
Widembuoch für Witthumsbrief in der schwäb. Trauungsformel, Müllenhoff
u. Scherer,
Denkmäler, 1873, S 246. Zuirslahtbuoch libellum repudii,
Steinmeyer, Ahd. Glossen I 367, 40. Ebendaselbst II 425, 51: cartulas puoh;
II 100, 13: canonicas epistulas rehtlicho urloup poh; I 751, 41: littere puoh.
Carta, ein buch oder zedell noch in einem Vokabular von 1440 nach Diefen-
bach,
Gloss. latino-germanicum S 103.
10 Lex Rib. 59, 1. Lex Burg. 43. 60. Lex Al. 1, 1. Lex Baiuw. I 1. Ratchis 8.
Extr. B zur Lex Sal. c. 4. Westgot. Rechtsaufzeichnung (oben S 325) c. 15.

§ 57. Die Urkunden.
Zeit hat es in diesem Sinne noch nicht angewendet. Vielmehr be-
deutet ahd. urchundo, alts. urcundëo den Zeugen, urchundî das
Zeugnis. Gemeingermanischer Ausdruck für das, was wir jetzt Ur-
kunde nennen, war Buch, ein Wort, welches ursprünglich im Singular
den Buchstaben, im Plural das Geschriebene bezeichnete und aus dem
Einritzen der Runen auf Buchenstäbe erklärt wird 5. Boka, bokos 6
verwendet schon das Gotische für Urkunde 7. Den Friesen und
Angelsachsen ist bôcland, boklond bis in das zwölfte Jahrhundert das
durch Urkunde erworbene Land 8. Althochdeutsche Glossen und Ur-
kunden geben carta, cartula, epistola, litterae durch puoh, buoch 9.

Die Urkunden sind in Königsurkunden und in Privaturkunden zu
scheiden. Bei den Franken hat nur die Königsurkunde den Charakter
der wahren öffentlichen Urkunde, während in Italien ihn auch die
Gerichtsurkunde besitzt. Rechtlich zeichnet sich die Königsurkunde
vor der Privaturkunde dadurch aus, daſs sie die Zeugen entbehren
kann und regelmäſsig entbehrt, während die Privaturkunde die Namen
von Zeugen nennen muſs 10. Die Königsurkunde bedarf der Zeugen
nicht, weil sie nicht angefochten werden kann. Dagegen ist die
Privaturkunde im Wege der Urkundenschelte anfechtbar und müssen
im Falle der Anfechtung die Zeugen für die Wahrheit des Urkunden-
inhaltes eintreten.

Bis in den Ausgang des 14. Jahrh. reicht die Formel brief und urkund hinauf.
Sickel, UL S 2 Anm 3. Von Brief und Urkund sprechen noch die Kammer-
gerichtsordnung § 5 und der Landfriede § 6 von 1495. Urkunde für Brief, carta
taucht vereinzelt erst im 16. Jahrh. auf. Sickel a. O. Die Karolina spricht
(Art. 112) bei der Urkundenfälschung noch nicht von Urkunden, sondern von brieff
und instrument. „Briefliche Urkunden“ hat das steir. Ldr. von 1574 in A. 80,
„schriftliche Urkunden“ die böhmische Landesordnung von 1627 C 7.
5 Grimm, WB II 467. Kluge, Etym. WB S 41.
6 Plural von boka.
7 Frabauhtaboka, Verkaufsurkunde bei Bernhardt, Die gotische Bibel des
Vulfila nebst … den Urkunden, 1884, S 218. Auſserdem bei Ulfilas vadjabokos,
Pfandbrief, Schuldschein, afstassais bokos Scheidebrief.
8 Brunner, Zur RG der Urk. S 151. 300.
9 Wartmann, St. Gall. UB. II Nr 621 v. J. 882: placuit inter nos cartam
pacationis ex utraque parte allevari, quod tiutiscae suonbuoch nominamus.
Widembuoch für Witthumsbrief in der schwäb. Trauungsformel, Müllenhoff
u. Scherer,
Denkmäler, 1873, S 246. Zuirslahtbuoch libellum repudii,
Steinmeyer, Ahd. Glossen I 367, 40. Ebendaselbst II 425, 51: cartulas puoh;
II 100, 13: canonicas epistulas rehtlicho urloup poh; I 751, 41: littere puoh.
Carta, ein bůch oder zedell noch in einem Vokabular von 1440 nach Diefen-
bach,
Gloss. latino-germanicum S 103.
10 Lex Rib. 59, 1. Lex Burg. 43. 60. Lex Al. 1, 1. Lex Baiuw. I 1. Ratchis 8.
Extr. B zur Lex Sal. c. 4. Westgot. Rechtsaufzeichnung (oben S 325) c. 15.
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[393/0411] § 57. Die Urkunden. Zeit hat es in diesem Sinne noch nicht angewendet. Vielmehr be- deutet ahd. urchundo, alts. urcundëo den Zeugen, urchundî das Zeugnis. Gemeingermanischer Ausdruck für das, was wir jetzt Ur- kunde nennen, war Buch, ein Wort, welches ursprünglich im Singular den Buchstaben, im Plural das Geschriebene bezeichnete und aus dem Einritzen der Runen auf Buchenstäbe erklärt wird 5. Boka, bokos 6 verwendet schon das Gotische für Urkunde 7. Den Friesen und Angelsachsen ist bôcland, boklond bis in das zwölfte Jahrhundert das durch Urkunde erworbene Land 8. Althochdeutsche Glossen und Ur- kunden geben carta, cartula, epistola, litterae durch puoh, buoch 9. Die Urkunden sind in Königsurkunden und in Privaturkunden zu scheiden. Bei den Franken hat nur die Königsurkunde den Charakter der wahren öffentlichen Urkunde, während in Italien ihn auch die Gerichtsurkunde besitzt. Rechtlich zeichnet sich die Königsurkunde vor der Privaturkunde dadurch aus, daſs sie die Zeugen entbehren kann und regelmäſsig entbehrt, während die Privaturkunde die Namen von Zeugen nennen muſs 10. Die Königsurkunde bedarf der Zeugen nicht, weil sie nicht angefochten werden kann. Dagegen ist die Privaturkunde im Wege der Urkundenschelte anfechtbar und müssen im Falle der Anfechtung die Zeugen für die Wahrheit des Urkunden- inhaltes eintreten. 4 5 Grimm, WB II 467. Kluge, Etym. WB S 41. 6 Plural von boka. 7 Frabauhtaboka, Verkaufsurkunde bei Bernhardt, Die gotische Bibel des Vulfila nebst … den Urkunden, 1884, S 218. Auſserdem bei Ulfilas vadjabokos, Pfandbrief, Schuldschein, afstassais bokos Scheidebrief. 8 Brunner, Zur RG der Urk. S 151. 300. 9 Wartmann, St. Gall. UB. II Nr 621 v. J. 882: placuit inter nos cartam pacationis ex utraque parte allevari, quod tiutiscae suonbuoch nominamus. Widembuoch für Witthumsbrief in der schwäb. Trauungsformel, Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler, 1873, S 246. Zuirslahtbuoch libellum repudii, Steinmeyer, Ahd. Glossen I 367, 40. Ebendaselbst II 425, 51: cartulas puoh; II 100, 13: canonicas epistulas rehtlicho urloup poh; I 751, 41: littere puoh. Carta, ein bůch oder zedell noch in einem Vokabular von 1440 nach Diefen- bach, Gloss. latino-germanicum S 103. 10 Lex Rib. 59, 1. Lex Burg. 43. 60. Lex Al. 1, 1. Lex Baiuw. I 1. Ratchis 8. Extr. B zur Lex Sal. c. 4. Westgot. Rechtsaufzeichnung (oben S 325) c. 15. 4 Bis in den Ausgang des 14. Jahrh. reicht die Formel brief und urkund hinauf. Sickel, UL S 2 Anm 3. Von Brief und Urkund sprechen noch die Kammer- gerichtsordnung § 5 und der Landfriede § 6 von 1495. Urkunde für Brief, carta taucht vereinzelt erst im 16. Jahrh. auf. Sickel a. O. Die Karolina spricht (Art. 112) bei der Urkundenfälschung noch nicht von Urkunden, sondern von brieff und instrument. „Briefliche Urkunden“ hat das steir. Ldr. von 1574 in A. 80, „schriftliche Urkunden“ die böhmische Landesordnung von 1627 C 7.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/411>, abgerufen am 22.11.2024.