Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 5. Die Bearbeitungen
aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte
an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis
der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwester-
rechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in
erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schil-
derungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den
heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abs-
trakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens
zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschliessenden oder aus-
malenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist
seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Masse gewor-
den, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch
der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat.

Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der
germanistischen Forschung durch Jakob Grimm 23 zuteil, dessen
Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu
Eichhorns Rechtsgeschichte bilden 24. Jakob Grimm fasst nur das
altertümliche Recht ins Auge. Er will "Materialien für das sinnliche
Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln". Seine Rechts-
altertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche
Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die
formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Ver-
ständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch
die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung
der nordischen Quellen und aussergermanischer Rechte den grossartigen
Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes 25. Der

23 Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens giebt Wilhelm Scherer,
Jacob Grimm, 2. Ausg. 1885.
24 Die erste Ausgabe erschien 1828; die zweite (1854) und die dritte (1881)
sind nur ein unveränderter Abdruck der ersten. Ein Register zu den RA wurde
von Al. Pogatscher aus dem Nachlass Th. v. Karajans 1877 in dem Programm
der Salzburger Realschule herausgegeben. Jakob Grimm hat zu seinem Hand-
exemplar der RA, welches zu benutzen mir verstattet war, teils auf dem Rande,
teils auf losen eingelegten Blättern zahlreiche Nachträge vermerkt, weitere Quellen-
belege, Litteraturnachweise, Ergänzungen, hie und da auch Einfälle, die er mit
Fragezeichen versah. Wenn im folgenden ein "Nachtrag zu den RA" zitiert wird,
sind diese eigenhändigen Aufzeichnungen J. Grimms gemeint.
25 Von den Männern, die Grimm in der Vorrede als seine Vorgänger nennt,
Heineccius, Dreyer, Grupen, Haltaus, Kindlinger und Bodmann, sind die vier ersten
schon oben S 17 u. 10 erwähnt. Kindlinger kommt nur als Quellensammler in Betracht.
Bodmanns Arbeiten sind inzwischen z. T. als unzuverlässige, ja gewissenlose Mach-
werke erkannt worden. -- Teils Auszug, teils Übersetzung, teils Ergänzung aus

§ 5. Die Bearbeitungen
aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte
an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis
der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwester-
rechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in
erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schil-
derungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den
heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abs-
trakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens
zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschlieſsenden oder aus-
malenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist
seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Maſse gewor-
den, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch
der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat.

Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der
germanistischen Forschung durch Jakob Grimm 23 zuteil, dessen
Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu
Eichhorns Rechtsgeschichte bilden 24. Jakob Grimm faſst nur das
altertümliche Recht ins Auge. Er will „Materialien für das sinnliche
Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln“. Seine Rechts-
altertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche
Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die
formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Ver-
ständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch
die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung
der nordischen Quellen und auſsergermanischer Rechte den groſsartigen
Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes 25. Der

23 Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens giebt Wilhelm Scherer,
Jacob Grimm, 2. Ausg. 1885.
24 Die erste Ausgabe erschien 1828; die zweite (1854) und die dritte (1881)
sind nur ein unveränderter Abdruck der ersten. Ein Register zu den RA wurde
von Al. Pogatscher aus dem Nachlaſs Th. v. Karajans 1877 in dem Programm
der Salzburger Realschule herausgegeben. Jakob Grimm hat zu seinem Hand-
exemplar der RA, welches zu benutzen mir verstattet war, teils auf dem Rande,
teils auf losen eingelegten Blättern zahlreiche Nachträge vermerkt, weitere Quellen-
belege, Litteraturnachweise, Ergänzungen, hie und da auch Einfälle, die er mit
Fragezeichen versah. Wenn im folgenden ein „Nachtrag zu den RA“ zitiert wird,
sind diese eigenhändigen Aufzeichnungen J. Grimms gemeint.
25 Von den Männern, die Grimm in der Vorrede als seine Vorgänger nennt,
Heineccius, Dreyer, Grupen, Haltaus, Kindlinger und Bodmann, sind die vier ersten
schon oben S 17 u. 10 erwähnt. Kindlinger kommt nur als Quellensammler in Betracht.
Bodmanns Arbeiten sind inzwischen z. T. als unzuverlässige, ja gewissenlose Mach-
werke erkannt worden. — Teils Auszug, teils Übersetzung, teils Ergänzung aus
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0038" n="20"/><fw place="top" type="header">§ 5. Die Bearbeitungen</fw><lb/>
aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte<lb/>
an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis<lb/>
der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwester-<lb/>
rechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in<lb/>
erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schil-<lb/>
derungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den<lb/>
heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abs-<lb/>
trakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens<lb/>
zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschlie&#x017F;senden oder aus-<lb/>
malenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist<lb/>
seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Ma&#x017F;se gewor-<lb/>
den, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch<lb/>
der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat.</p><lb/>
          <p>Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der<lb/>
germanistischen Forschung durch <hi rendition="#g">Jakob Grimm</hi> <note place="foot" n="23">Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens giebt <hi rendition="#g">Wilhelm Scherer</hi>,<lb/>
Jacob Grimm, 2. Ausg. 1885.</note> zuteil, dessen<lb/>
Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu<lb/>
Eichhorns Rechtsgeschichte bilden <note place="foot" n="24">Die erste Ausgabe erschien 1828; die zweite (1854) und die dritte (1881)<lb/>
sind nur ein unveränderter Abdruck der ersten. Ein Register zu den RA wurde<lb/>
von <hi rendition="#g">Al. Pogatscher</hi> aus dem Nachla&#x017F;s Th. v. Karajans 1877 in dem Programm<lb/>
der Salzburger Realschule herausgegeben. Jakob Grimm hat zu seinem Hand-<lb/>
exemplar der RA, welches zu benutzen mir verstattet war, teils auf dem Rande,<lb/>
teils auf losen eingelegten Blättern zahlreiche Nachträge vermerkt, weitere Quellen-<lb/>
belege, Litteraturnachweise, Ergänzungen, hie und da auch Einfälle, die er mit<lb/>
Fragezeichen versah. Wenn im folgenden ein &#x201E;Nachtrag zu den RA&#x201C; zitiert wird,<lb/>
sind diese eigenhändigen Aufzeichnungen J. Grimms gemeint.</note>. Jakob Grimm fa&#x017F;st nur das<lb/>
altertümliche Recht ins Auge. Er will &#x201E;Materialien für das sinnliche<lb/>
Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln&#x201C;. Seine Rechts-<lb/>
altertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche<lb/>
Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die<lb/>
formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Ver-<lb/>
ständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch<lb/>
die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung<lb/>
der nordischen Quellen und au&#x017F;sergermanischer Rechte den gro&#x017F;sartigen<lb/>
Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes <note xml:id="note-0038" next="#note-0039" place="foot" n="25">Von den Männern, die Grimm in der Vorrede als seine Vorgänger nennt,<lb/>
Heineccius, Dreyer, Grupen, Haltaus, Kindlinger und Bodmann, sind die vier ersten<lb/>
schon oben S 17 u. 10 erwähnt. Kindlinger kommt nur als Quellensammler in Betracht.<lb/>
Bodmanns Arbeiten sind inzwischen z. T. als unzuverlässige, ja gewissenlose Mach-<lb/>
werke erkannt worden. &#x2014; Teils Auszug, teils Übersetzung, teils Ergänzung aus</note>. Der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0038] § 5. Die Bearbeitungen aufzulegen, welche durch den Begriff der deutschen Rechtsgeschichte an sich nicht geboten waren. Er konzentrierte sich auf den Kreis der deutschen Rechtsquellen, indem er auf die Tochter- und Schwester- rechte geringe oder keine Rücksicht nahm. Er verlor sich nicht in erschöpfende Detailuntersuchungen und verzichtete auf lebendige Schil- derungen der vergangenen Rechtszustände, wie er denn von den heimischen Quellen diejenigen minder beachtete, in welchen der abs- trakte Rechtsgedanke hinter den anschaulichen Formen des Rechtslebens zurücktritt. Die Zeit bedurfte nicht eines abschlieſsenden oder aus- malenden, sondern eines bahnbrechenden Werkes, und ein solches ist seine Staats- und Rechtsgeschichte nicht nur in vollem Maſse gewor- den, sondern sie ist trotz zahlreicher Berichtigungen das leitende Buch der Disziplin geblieben, die es geschaffen hat. Eine bedeutsame Erweiterung ihres Gesichtskreises wurde der germanistischen Forschung durch Jakob Grimm 23 zuteil, dessen Rechtsaltertümer in gewissem Sinne ein ergänzendes Gegenstück zu Eichhorns Rechtsgeschichte bilden 24. Jakob Grimm faſst nur das altertümliche Recht ins Auge. Er will „Materialien für das sinnliche Element der deutschen Rechtsgeschichte sammeln“. Seine Rechts- altertümer stellen sich in dieser Beziehung als eine unerschöpfliche Fundgrube dar, sie sind aber mehr wie dies, denn sie bringen die formelle Ausgestaltung des alten deutschen Rechtes mit feinstem Ver- ständnis zu lebensvoller Anschauung, sie beleuchten das Recht durch die Sprache und Kultur des Volkes und liefern durch die Heranziehung der nordischen Quellen und auſsergermanischer Rechte den groſsartigen Unterbau einer vergleichenden Altertumskunde des Rechtes 25. Der 23 Eine Darstellung seines Lebens und Wirkens giebt Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, 2. Ausg. 1885. 24 Die erste Ausgabe erschien 1828; die zweite (1854) und die dritte (1881) sind nur ein unveränderter Abdruck der ersten. Ein Register zu den RA wurde von Al. Pogatscher aus dem Nachlaſs Th. v. Karajans 1877 in dem Programm der Salzburger Realschule herausgegeben. Jakob Grimm hat zu seinem Hand- exemplar der RA, welches zu benutzen mir verstattet war, teils auf dem Rande, teils auf losen eingelegten Blättern zahlreiche Nachträge vermerkt, weitere Quellen- belege, Litteraturnachweise, Ergänzungen, hie und da auch Einfälle, die er mit Fragezeichen versah. Wenn im folgenden ein „Nachtrag zu den RA“ zitiert wird, sind diese eigenhändigen Aufzeichnungen J. Grimms gemeint. 25 Von den Männern, die Grimm in der Vorrede als seine Vorgänger nennt, Heineccius, Dreyer, Grupen, Haltaus, Kindlinger und Bodmann, sind die vier ersten schon oben S 17 u. 10 erwähnt. Kindlinger kommt nur als Quellensammler in Betracht. Bodmanns Arbeiten sind inzwischen z. T. als unzuverlässige, ja gewissenlose Mach- werke erkannt worden. — Teils Auszug, teils Übersetzung, teils Ergänzung aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/38
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/38>, abgerufen am 11.12.2024.