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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.
Anianus versehen, nach Anordnung des Grafen Gojarich an die
richterlichen Beamten verschickt wurden. Das königliche Dekret,
welches vom Jahre 506 aus Toulouse datiert ist, gebietet, dass nur
nach diesem Rechtsbuche und nicht nach anderen römischen Rechts-
quellen geurteilt werden dürfe.

Alarichs Rechtsbuch hat keine offizielle Bezeichnung. Die be-
glaubigende Unterschrift des Referendars Anianus nennt es Codex de
Theodosiani legibus atque sententiis iuris vel diversis libris electus.
In den Handschriften heisst es Liber legum (Romanarum), Lex Romana,
Lex Theodosii, Corpus legum. Seit dem sechzehnten Jahrhundert ist
dafür die Bezeichnung Breviarium üblich geworden.

Die Redaktoren des Breviars, sicherlich Römer, befolgten eine
exzerpierende und kompilierende Methode, welche einigermassen mit
derjenigen verwandt ist, die später Justinian bei Abfassung der Pan-
dekten und des Kodex anwenden liess. Der römische Rechtsstoff zerfiel
zur Zeit der Entstehung des Breviars in zwei Hauptmassen, nämlich
in ius und leges, ein Gegensatz, der etwa dem des englischen common
law und statute law entspricht 3. Das ius bestand in den Schriften der
römischen Juristen und in den älteren Konstitutionensammlungen; als
leges fasste man die Konstitutionen des Codex Theodosianus und die
posttheodosianischen Novellen zusammen. Die Redaktoren des Breviars
stellten an die Spitze ihres Werkes eine Auswahl von Konstitutionen des
Codex Theodosianus, dessen 16 Bücher ungefähr auf ein Sechstel ihres
Umfanges reduziert wurden. Es folgen Novellen von Theodosius II.,
Valentinian III., Marcian, Majorian und Severus. Die jüngste stammt
vom Jahre 463 4. Das ius ist viel spärlicher vertreten, nämlich durch
den Liber Gaii, eine um die Wende des vierten und fünften Jahr-
hunderts vermutlich in Rom entstandene Bearbeitung des Gaius,
welche die noch praktisch geltenden Sätze mit Ausscheidung alles
Historischen zusammenstellte, ferner durch die Sententiae des Paulus,
durch 22 Konstitutionen aus dem Codex Gregorianus, zwei Kon-
stitutionen aus dem Codex Hermogenianus und endlich durch eine
kleine Stelle aus den Responsen Papinians.

Abgesehen vom Liber Gaii ist die ganze Kompilation mit einer
fortlaufenden Glosse versehen, die sich als interpretatio bezeichnet.

3 Zum common law wurden auch die älteren Königsgesetze gezählt. Siehe
Holtzendorff, Rechtsencyklopädie I4 307.
4 Die noch jüngeren Novellen des Anthemius, Haenel, Novellae constit.
col. 341, fallen bereits in die Regierungszeit des Königs Eurich (466--484) und kamen
nicht in Betracht, weil Eurich die Oberhoheit des Kaisertums und damit dessen
Gesetzgebung nicht mehr anerkannt hatte.

§ 50. Die Lex Romana Wisigothorum.
Anianus versehen, nach Anordnung des Grafen Gojarich an die
richterlichen Beamten verschickt wurden. Das königliche Dekret,
welches vom Jahre 506 aus Toulouse datiert ist, gebietet, daſs nur
nach diesem Rechtsbuche und nicht nach anderen römischen Rechts-
quellen geurteilt werden dürfe.

Alarichs Rechtsbuch hat keine offizielle Bezeichnung. Die be-
glaubigende Unterschrift des Referendars Anianus nennt es Codex de
Theodosiani legibus atque sententiis iuris vel diversis libris electus.
In den Handschriften heiſst es Liber legum (Romanarum), Lex Romana,
Lex Theodosii, Corpus legum. Seit dem sechzehnten Jahrhundert ist
dafür die Bezeichnung Breviarium üblich geworden.

Die Redaktoren des Breviars, sicherlich Römer, befolgten eine
exzerpierende und kompilierende Methode, welche einigermaſsen mit
derjenigen verwandt ist, die später Justinian bei Abfassung der Pan-
dekten und des Kodex anwenden lieſs. Der römische Rechtsstoff zerfiel
zur Zeit der Entstehung des Breviars in zwei Hauptmassen, nämlich
in ius und leges, ein Gegensatz, der etwa dem des englischen common
law und statute law entspricht 3. Das ius bestand in den Schriften der
römischen Juristen und in den älteren Konstitutionensammlungen; als
leges faſste man die Konstitutionen des Codex Theodosianus und die
posttheodosianischen Novellen zusammen. Die Redaktoren des Breviars
stellten an die Spitze ihres Werkes eine Auswahl von Konstitutionen des
Codex Theodosianus, dessen 16 Bücher ungefähr auf ein Sechstel ihres
Umfanges reduziert wurden. Es folgen Novellen von Theodosius II.,
Valentinian III., Marcian, Majorian und Severus. Die jüngste stammt
vom Jahre 463 4. Das ius ist viel spärlicher vertreten, nämlich durch
den Liber Gaii, eine um die Wende des vierten und fünften Jahr-
hunderts vermutlich in Rom entstandene Bearbeitung des Gaius,
welche die noch praktisch geltenden Sätze mit Ausscheidung alles
Historischen zusammenstellte, ferner durch die Sententiae des Paulus,
durch 22 Konstitutionen aus dem Codex Gregorianus, zwei Kon-
stitutionen aus dem Codex Hermogenianus und endlich durch eine
kleine Stelle aus den Responsen Papinians.

Abgesehen vom Liber Gaii ist die ganze Kompilation mit einer
fortlaufenden Glosse versehen, die sich als interpretatio bezeichnet.

3 Zum common law wurden auch die älteren Königsgesetze gezählt. Siehe
Holtzendorff, Rechtsencyklopädie I4 307.
4 Die noch jüngeren Novellen des Anthemius, Haenel, Novellae constit.
col. 341, fallen bereits in die Regierungszeit des Königs Eurich (466—484) und kamen
nicht in Betracht, weil Eurich die Oberhoheit des Kaisertums und damit dessen
Gesetzgebung nicht mehr anerkannt hatte.
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[359/0377] § 50. Die Lex Romana Wisigothorum. Anianus versehen, nach Anordnung des Grafen Gojarich an die richterlichen Beamten verschickt wurden. Das königliche Dekret, welches vom Jahre 506 aus Toulouse datiert ist, gebietet, daſs nur nach diesem Rechtsbuche und nicht nach anderen römischen Rechts- quellen geurteilt werden dürfe. Alarichs Rechtsbuch hat keine offizielle Bezeichnung. Die be- glaubigende Unterschrift des Referendars Anianus nennt es Codex de Theodosiani legibus atque sententiis iuris vel diversis libris electus. In den Handschriften heiſst es Liber legum (Romanarum), Lex Romana, Lex Theodosii, Corpus legum. Seit dem sechzehnten Jahrhundert ist dafür die Bezeichnung Breviarium üblich geworden. Die Redaktoren des Breviars, sicherlich Römer, befolgten eine exzerpierende und kompilierende Methode, welche einigermaſsen mit derjenigen verwandt ist, die später Justinian bei Abfassung der Pan- dekten und des Kodex anwenden lieſs. Der römische Rechtsstoff zerfiel zur Zeit der Entstehung des Breviars in zwei Hauptmassen, nämlich in ius und leges, ein Gegensatz, der etwa dem des englischen common law und statute law entspricht 3. Das ius bestand in den Schriften der römischen Juristen und in den älteren Konstitutionensammlungen; als leges faſste man die Konstitutionen des Codex Theodosianus und die posttheodosianischen Novellen zusammen. Die Redaktoren des Breviars stellten an die Spitze ihres Werkes eine Auswahl von Konstitutionen des Codex Theodosianus, dessen 16 Bücher ungefähr auf ein Sechstel ihres Umfanges reduziert wurden. Es folgen Novellen von Theodosius II., Valentinian III., Marcian, Majorian und Severus. Die jüngste stammt vom Jahre 463 4. Das ius ist viel spärlicher vertreten, nämlich durch den Liber Gaii, eine um die Wende des vierten und fünften Jahr- hunderts vermutlich in Rom entstandene Bearbeitung des Gaius, welche die noch praktisch geltenden Sätze mit Ausscheidung alles Historischen zusammenstellte, ferner durch die Sententiae des Paulus, durch 22 Konstitutionen aus dem Codex Gregorianus, zwei Kon- stitutionen aus dem Codex Hermogenianus und endlich durch eine kleine Stelle aus den Responsen Papinians. Abgesehen vom Liber Gaii ist die ganze Kompilation mit einer fortlaufenden Glosse versehen, die sich als interpretatio bezeichnet. 3 Zum common law wurden auch die älteren Königsgesetze gezählt. Siehe Holtzendorff, Rechtsencyklopädie I4 307. 4 Die noch jüngeren Novellen des Anthemius, Haenel, Novellae constit. col. 341, fallen bereits in die Regierungszeit des Königs Eurich (466—484) und kamen nicht in Betracht, weil Eurich die Oberhoheit des Kaisertums und damit dessen Gesetzgebung nicht mehr anerkannt hatte.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/377>, abgerufen am 22.11.2024.