4. Die Lex Wisigothorum Vulgata. Unter diesem Aus- druck kann man diejenigen Formen der Lex Wisigothorum zusammen- fassen, welche jünger sind wie die Erwigiana. Charakteristisch ist den Handschriften der Vulgata, dass sie einzelne Gesetze Egicas (687--701) in die Lex aufnehmen. Egica war der letzte westgotische König, der eine Umarbeitung der Lex vornahm, wobei er einige der von Erwig ausgemerzten Gesetze restituierte 49. Unerweislich ist die Annahme, dass schliesslich auch noch König Witica (701--710) eine neue Redaktion des Gesetzbuches vorgenommen habe.
Nachdem das westgotische Reich von den Arabern gestürzt worden war, erhielt sich die Geltung der Lex Wisigothorum bei der west- gotischen Bevölkerung in den südöstlichen Strichen des fränkischen Reiches und in den nördlichen Gebieten Spaniens. König Ferdinand III. von Kastilien und Leon (1229--1234) liess für Cordova, wo das alte Gesetzbuch unter der maurischen Herrschaft ausser Gebrauch ge- kommen war, eine Übersetzung der Vulgata in das Kastilianische veranstalten und publizierte sie als Fuero de Cordova.
Die Entwicklung, welche die westgotische Gesetzgebung vom siebenten Jahrhundert ab durchlaufen hatte, ist ein getreues Spiegel- bild der allmählichen Zersetzung, der das westgotische Reich seit der Katholisierung des Volkes anheimfiel. Der steigende Einfluss, welchen der katholische Klerus auf alle Gebiete des Staatslebens gewann, macht sich in der Berücksichtigung der Konzilienschlüsse und in dem sentenziösen Tone der Gesetze geltend. Die Einheit des Rechtes, wie sie durch die Ausdehnung der Lex auf die römische Bevölkerung her- gestellt wurde, hatte eine stärkere Annäherung des Gesetzgebers an das römische Recht und die Entnationalisierung des westgotischen Rechtes zur unvermeidlichen Folge. Trotz der mehrmaligen Revision ist das westgotische Gesetzbuch im allgemeinen ein Denkmal legis- lativer Unfähigkeit. Sieht man von den Rechtsgedanken ab, welche aus den Leges antiquae stammen, so bleibt als das Werk der jüngeren Gesetzgebung im wesentlichen nur ein kraftloses, gekünsteltes und greisenhaftes Recht, welches aus dem endlosen Schwulst seiner legislativen Einkleidung herauszuschälen eine wenig erquickliche Auf- gabe ist.
49 Z. B. Lex Wis. VI 5, 13: invenimus hanc legem iustissime editam iniuste abrasam. Et ideo ego Flavius Egica rex ... illo dudum eam iterum ordine in- troduxi, quo dudum illam praeviam iudicii principalis auctoritas collocavit. Für eine Redaktion Egicas Helfferich und Dahn, Studien. Dagegen Bluhme, Textkritik S 16.
§ 43. Die Leges Wisigothorum.
4. Die Lex Wisigothorum Vulgata. Unter diesem Aus- druck kann man diejenigen Formen der Lex Wisigothorum zusammen- fassen, welche jünger sind wie die Erwigiana. Charakteristisch ist den Handschriften der Vulgata, daſs sie einzelne Gesetze Egicas (687—701) in die Lex aufnehmen. Egica war der letzte westgotische König, der eine Umarbeitung der Lex vornahm, wobei er einige der von Erwig ausgemerzten Gesetze restituierte 49. Unerweislich ist die Annahme, daſs schlieſslich auch noch König Witica (701—710) eine neue Redaktion des Gesetzbuches vorgenommen habe.
Nachdem das westgotische Reich von den Arabern gestürzt worden war, erhielt sich die Geltung der Lex Wisigothorum bei der west- gotischen Bevölkerung in den südöstlichen Strichen des fränkischen Reiches und in den nördlichen Gebieten Spaniens. König Ferdinand III. von Kastilien und Leon (1229—1234) lieſs für Cordova, wo das alte Gesetzbuch unter der maurischen Herrschaft auſser Gebrauch ge- kommen war, eine Übersetzung der Vulgata in das Kastilianische veranstalten und publizierte sie als Fuero de Cordova.
Die Entwicklung, welche die westgotische Gesetzgebung vom siebenten Jahrhundert ab durchlaufen hatte, ist ein getreues Spiegel- bild der allmählichen Zersetzung, der das westgotische Reich seit der Katholisierung des Volkes anheimfiel. Der steigende Einfluſs, welchen der katholische Klerus auf alle Gebiete des Staatslebens gewann, macht sich in der Berücksichtigung der Konzilienschlüsse und in dem sentenziösen Tone der Gesetze geltend. Die Einheit des Rechtes, wie sie durch die Ausdehnung der Lex auf die römische Bevölkerung her- gestellt wurde, hatte eine stärkere Annäherung des Gesetzgebers an das römische Recht und die Entnationalisierung des westgotischen Rechtes zur unvermeidlichen Folge. Trotz der mehrmaligen Revision ist das westgotische Gesetzbuch im allgemeinen ein Denkmal legis- lativer Unfähigkeit. Sieht man von den Rechtsgedanken ab, welche aus den Leges antiquae stammen, so bleibt als das Werk der jüngeren Gesetzgebung im wesentlichen nur ein kraftloses, gekünsteltes und greisenhaftes Recht, welches aus dem endlosen Schwulst seiner legislativen Einkleidung herauszuschälen eine wenig erquickliche Auf- gabe ist.
49 Z. B. Lex Wis. VI 5, 13: invenimus hanc legem iustissime editam iniuste abrasam. Et ideo ego Flavius Egica rex … illo dudum eam iterum ordine in- troduxi, quo dudum illam praeviam iudicii principalis auctoritas collocavit. Für eine Redaktion Egicas Helfferich und Dahn, Studien. Dagegen Bluhme, Textkritik S 16.
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§ 43. Die Leges Wisigothorum.
4. Die Lex Wisigothorum Vulgata. Unter diesem Aus-
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fassen, welche jünger sind wie die Erwigiana. Charakteristisch ist
den Handschriften der Vulgata, daſs sie einzelne Gesetze Egicas
(687—701) in die Lex aufnehmen. Egica war der letzte westgotische
König, der eine Umarbeitung der Lex vornahm, wobei er einige der
von Erwig ausgemerzten Gesetze restituierte 49. Unerweislich ist die
Annahme, daſs schlieſslich auch noch König Witica (701—710) eine
neue Redaktion des Gesetzbuches vorgenommen habe.
Nachdem das westgotische Reich von den Arabern gestürzt worden
war, erhielt sich die Geltung der Lex Wisigothorum bei der west-
gotischen Bevölkerung in den südöstlichen Strichen des fränkischen
Reiches und in den nördlichen Gebieten Spaniens. König Ferdinand III.
von Kastilien und Leon (1229—1234) lieſs für Cordova, wo das alte
Gesetzbuch unter der maurischen Herrschaft auſser Gebrauch ge-
kommen war, eine Übersetzung der Vulgata in das Kastilianische
veranstalten und publizierte sie als Fuero de Cordova.
Die Entwicklung, welche die westgotische Gesetzgebung vom
siebenten Jahrhundert ab durchlaufen hatte, ist ein getreues Spiegel-
bild der allmählichen Zersetzung, der das westgotische Reich seit der
Katholisierung des Volkes anheimfiel. Der steigende Einfluſs, welchen
der katholische Klerus auf alle Gebiete des Staatslebens gewann,
macht sich in der Berücksichtigung der Konzilienschlüsse und in dem
sentenziösen Tone der Gesetze geltend. Die Einheit des Rechtes, wie
sie durch die Ausdehnung der Lex auf die römische Bevölkerung her-
gestellt wurde, hatte eine stärkere Annäherung des Gesetzgebers an
das römische Recht und die Entnationalisierung des westgotischen
Rechtes zur unvermeidlichen Folge. Trotz der mehrmaligen Revision
ist das westgotische Gesetzbuch im allgemeinen ein Denkmal legis-
lativer Unfähigkeit. Sieht man von den Rechtsgedanken ab, welche
aus den Leges antiquae stammen, so bleibt als das Werk der jüngeren
Gesetzgebung im wesentlichen nur ein kraftloses, gekünsteltes und
greisenhaftes Recht, welches aus dem endlosen Schwulst seiner
legislativen Einkleidung herauszuschälen eine wenig erquickliche Auf-
gabe ist.
49 Z. B. Lex Wis. VI 5, 13: invenimus hanc legem iustissime editam iniuste
abrasam. Et ideo ego Flavius Egica rex … illo dudum eam iterum ordine in-
troduxi, quo dudum illam praeviam iudicii principalis auctoritas collocavit. Für
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/349>, abgerufen am 20.07.2024.
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