sie selbst ausser dem merowingischen Königsgeschlechte keinen Adel besassen.
Anders verfuhren sie gegen das römische Ständewesen. Es waren jämmerliche soziale Zustände, die sie bei den römischen Provinzialen vorfanden. Wenn man das Recht der Berufswahl und die Freizügig- keit als Merkmale der Freiheit ansieht, so war hier der grössere Teil der nominell freien Bevölkerung in erblicher Unfreiheit befangen. Ackerbau und Gewerbe, Kriegsdienst und subalternes Ämterwesen hatten in der Kaiserzeit den Charakter erblicher Lasten angenommen. Das sinkende Reich vermochte sich nur in Funktion zu erhalten, in- dem es den Volksklassen, die den Druck der Verwaltung empfanden, die freie Wahl des Berufs versagte, die Leistungen, welche für das Gemeinwesen unentbehrlich waren, zu erblichen Fronden gestaltete und jeden, der sich dem aufgedrungenen Frondienste entzog, zwangsweise in denselben zurückführte 22. Den erblich gebundenen Gesellschaftsschichten stand eine privilegierte Aristokratie des höheren Staatsdienstes und der titulierten Grossgrundbesitzer gegenüber, welche unter dem Namen der honorati zusammengefasst wurde 23. In Gallien waren zur Zeit der Eroberung die höheren Ämter, Reichtum und Grundbesitz vorzugsweise in den Händen der sogenannten senatorischen Geschlechter, vornehmer Familien, in welchen der Senatortitel erb- lich war. Da die Bistümer sehr häufig aus ihnen besetzt wurden, stand auch die Kirche unter ihrem beherrschenden Einfluss. In diese kastenartig abgeschlossene und versteinerte Gesellschaft mit aus- geklügelten Titulaturen und pedantischen Kleiderordnungen hat die germanische Invasion Luft und Bewegung gebracht. Die fränkische Rechtsordnung ignorierte das römische Ständewesen 24. Der Römer, der aus senatorischem Samen entsprossen war oder einem infulierten Geschlechte angehörte, erhielt ebenso wie die Plebs nur ein Wergeld von 100 solidi. Dass der römische Kolone anfänglich noch ein ge- ringeres Wergeld hatte, war nicht Anerkennung römischen Stände- rechts, sondern Konsequenz einer germanischen Anschauung. Ebenso beruhte es auf allgemeinen fränkischen Rechtsgrundsätzen, dass der Römer durch Königsamt und Königsdienst und durch die Erlangung
22 v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozess III 21 ff. Padeletti, Römische RG (übers. von Holtzendorff) S 373.
23 Zu den honorati zählten die fungierenden und die zur Disposition gestellten Beamten des höheren Civil- und Militärdienstes und jene, die eine Titularwürde er- halten hatten.
24 Anders wie die burgundische. In Lex Burg. 26, 1 werden die Romani nobiles den burgundischen Optimaten gleichgestellt.
§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
sie selbst auſser dem merowingischen Königsgeschlechte keinen Adel besaſsen.
Anders verfuhren sie gegen das römische Ständewesen. Es waren jämmerliche soziale Zustände, die sie bei den römischen Provinzialen vorfanden. Wenn man das Recht der Berufswahl und die Freizügig- keit als Merkmale der Freiheit ansieht, so war hier der gröſsere Teil der nominell freien Bevölkerung in erblicher Unfreiheit befangen. Ackerbau und Gewerbe, Kriegsdienst und subalternes Ämterwesen hatten in der Kaiserzeit den Charakter erblicher Lasten angenommen. Das sinkende Reich vermochte sich nur in Funktion zu erhalten, in- dem es den Volksklassen, die den Druck der Verwaltung empfanden, die freie Wahl des Berufs versagte, die Leistungen, welche für das Gemeinwesen unentbehrlich waren, zu erblichen Fronden gestaltete und jeden, der sich dem aufgedrungenen Frondienste entzog, zwangsweise in denselben zurückführte 22. Den erblich gebundenen Gesellschaftsschichten stand eine privilegierte Aristokratie des höheren Staatsdienstes und der titulierten Groſsgrundbesitzer gegenüber, welche unter dem Namen der honorati zusammengefaſst wurde 23. In Gallien waren zur Zeit der Eroberung die höheren Ämter, Reichtum und Grundbesitz vorzugsweise in den Händen der sogenannten senatorischen Geschlechter, vornehmer Familien, in welchen der Senatortitel erb- lich war. Da die Bistümer sehr häufig aus ihnen besetzt wurden, stand auch die Kirche unter ihrem beherrschenden Einfluſs. In diese kastenartig abgeschlossene und versteinerte Gesellschaft mit aus- geklügelten Titulaturen und pedantischen Kleiderordnungen hat die germanische Invasion Luft und Bewegung gebracht. Die fränkische Rechtsordnung ignorierte das römische Ständewesen 24. Der Römer, der aus senatorischem Samen entsprossen war oder einem infulierten Geschlechte angehörte, erhielt ebenso wie die Plebs nur ein Wergeld von 100 solidi. Daſs der römische Kolone anfänglich noch ein ge- ringeres Wergeld hatte, war nicht Anerkennung römischen Stände- rechts, sondern Konsequenz einer germanischen Anschauung. Ebenso beruhte es auf allgemeinen fränkischen Rechtsgrundsätzen, daſs der Römer durch Königsamt und Königsdienst und durch die Erlangung
22 v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeſs III 21 ff. Padeletti, Römische RG (übers. von Holtzendorff) S 373.
23 Zu den honorati zählten die fungierenden und die zur Disposition gestellten Beamten des höheren Civil- und Militärdienstes und jene, die eine Titularwürde er- halten hatten.
24 Anders wie die burgundische. In Lex Burg. 26, 1 werden die Romani nobiles den burgundischen Optimaten gleichgestellt.
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§ 29. Die Gliederung der Gesellschaft.
sie selbst auſser dem merowingischen Königsgeschlechte keinen Adel
besaſsen.
Anders verfuhren sie gegen das römische Ständewesen. Es waren
jämmerliche soziale Zustände, die sie bei den römischen Provinzialen
vorfanden. Wenn man das Recht der Berufswahl und die Freizügig-
keit als Merkmale der Freiheit ansieht, so war hier der gröſsere Teil
der nominell freien Bevölkerung in erblicher Unfreiheit befangen.
Ackerbau und Gewerbe, Kriegsdienst und subalternes Ämterwesen
hatten in der Kaiserzeit den Charakter erblicher Lasten angenommen.
Das sinkende Reich vermochte sich nur in Funktion zu erhalten, in-
dem es den Volksklassen, die den Druck der Verwaltung empfanden,
die freie Wahl des Berufs versagte, die Leistungen, welche für das
Gemeinwesen unentbehrlich waren, zu erblichen Fronden gestaltete
und jeden, der sich dem aufgedrungenen Frondienste entzog,
zwangsweise in denselben zurückführte 22. Den erblich gebundenen
Gesellschaftsschichten stand eine privilegierte Aristokratie des höheren
Staatsdienstes und der titulierten Groſsgrundbesitzer gegenüber, welche
unter dem Namen der honorati zusammengefaſst wurde 23. In Gallien
waren zur Zeit der Eroberung die höheren Ämter, Reichtum und
Grundbesitz vorzugsweise in den Händen der sogenannten senatorischen
Geschlechter, vornehmer Familien, in welchen der Senatortitel erb-
lich war. Da die Bistümer sehr häufig aus ihnen besetzt wurden,
stand auch die Kirche unter ihrem beherrschenden Einfluſs. In diese
kastenartig abgeschlossene und versteinerte Gesellschaft mit aus-
geklügelten Titulaturen und pedantischen Kleiderordnungen hat die
germanische Invasion Luft und Bewegung gebracht. Die fränkische
Rechtsordnung ignorierte das römische Ständewesen 24. Der Römer,
der aus senatorischem Samen entsprossen war oder einem infulierten
Geschlechte angehörte, erhielt ebenso wie die Plebs nur ein Wergeld
von 100 solidi. Daſs der römische Kolone anfänglich noch ein ge-
ringeres Wergeld hatte, war nicht Anerkennung römischen Stände-
rechts, sondern Konsequenz einer germanischen Anschauung. Ebenso
beruhte es auf allgemeinen fränkischen Rechtsgrundsätzen, daſs der
Römer durch Königsamt und Königsdienst und durch die Erlangung
22 v. Bethmann-Hollweg, Der römische Civilprozeſs III 21 ff. Padeletti,
Römische RG (übers. von Holtzendorff) S 373.
23 Zu den honorati zählten die fungierenden und die zur Disposition gestellten
Beamten des höheren Civil- und Militärdienstes und jene, die eine Titularwürde er-
halten hatten.
24 Anders wie die burgundische. In Lex Burg. 26, 1 werden die Romani
nobiles den burgundischen Optimaten gleichgestellt.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/247>, abgerufen am 20.07.2024.
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