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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 23. Der Rechtsgang.
zu wählen 12. Aus einem aussergerichtlichen Beweisgedinge erklärt
sich der Ursprung des Beweises durch Geschäftszeugen. Bei Abschluss
eines Rechtsgeschäftes oder bei Vornahme eines sonstigen Rechtsaktes
konnte sofort die Form vereinbart werden, in welcher der Beweis
des Rechtsgeschäftes oder des Rechtsaktes zu erbringen sei, wenn
sie hinterher bestritten würden. Die Kontrahenten zogen bei dem
Abschluss des Geschäftes Zeugen zu, indem sie verabredeten, dass
der Eid dieser Zeugen eventuell den Abschluss und den Inhalt des
Rechtsgeschäftes feststellen solle.

Da die Thätigkeit des Gerichtes sich darauf beschränkt, einen
Sühnevertrag der Parteien zustande zu bringen, wird von dem ge-
samten Beweisverfahren nur der Abschluss des Beweisvertrags -- als
ein Bestandteil des Sühnevertrags -- in das Verfahren vor Gericht
hineingezogen. Die Erfüllung des Beweisvertrags ist eine ausser-
gerichtliche Angelegenheit der paktierenden Parteien, mit welcher das
Gericht als solches sich nicht weiter befasst. Demgemäss wird das
Verhandlungsprinzip in seiner vollen Konsequenz auf das Beweis-
verfahren ausgedehnt. Der Beweis, welchen die Partei auf Grund
des Urteils angelobt, wird von ihr nicht dem Gerichte, sondern dem
Prozessgegner geliefert. Das Beweisverfahren ist der richterlichen
Prüfung entzogen; die Stelle derselben vertritt gemäss dem Walten
der Verhandlungsmaxime die Herrschaft der Form im Beweisverfahren.
Die Glaubwürdigkeit der Beweismittel beruht nicht wie nach dem
modernen Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der subjektiven
Überzeugung des Gerichts, sondern auf dem Glauben, welchen die
allgemeine Volksüberzeugung bestimmten beweisrechtlichen Handlungen
beilegt. Die germanischen Beweismittel sind formaler Natur. Der
aus der Volksüberzeugung hervorgehende Gesamtwille bestimmt ein
für allemal die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein
Beweis für erbracht gelten könne. Eben darin beruht aber das
juristische Wesen der Form, dass die Gesamtheit ihren Willen und
ihre Anschauungen über den Willen und die Anschauungen der
Individuen stellt 13.

12 Lex Sal. 53.
13 Schwurgerichte S 48. Die Ausführungen Richard Loenings, Der Reini-
gungseid S 45 f. sind, soweit ich sie für zutreffend halten kann, im wesentlichen
eine Umschreibung dessen, was ich a. O. und Verhandlungen des deutschen Juristen-
tags IX 335 bemerkt habe. Dass das germanische Beweisrecht formeller Natur sei,
muss ich nach wie vor behaupten. Freilich erklärt das Recht die Beweismittel nicht
wegen ihrer Form an sich für beweiskräftig; allein dadurch, dass es gewisse Hand-
lungen in ihrer äusseren Erscheinung als Beweismittel anerkennt, macht es sie zur

§ 23. Der Rechtsgang.
zu wählen 12. Aus einem auſsergerichtlichen Beweisgedinge erklärt
sich der Ursprung des Beweises durch Geschäftszeugen. Bei Abschluſs
eines Rechtsgeschäftes oder bei Vornahme eines sonstigen Rechtsaktes
konnte sofort die Form vereinbart werden, in welcher der Beweis
des Rechtsgeschäftes oder des Rechtsaktes zu erbringen sei, wenn
sie hinterher bestritten würden. Die Kontrahenten zogen bei dem
Abschluſs des Geschäftes Zeugen zu, indem sie verabredeten, daſs
der Eid dieser Zeugen eventuell den Abschluſs und den Inhalt des
Rechtsgeschäftes feststellen solle.

Da die Thätigkeit des Gerichtes sich darauf beschränkt, einen
Sühnevertrag der Parteien zustande zu bringen, wird von dem ge-
samten Beweisverfahren nur der Abschluſs des Beweisvertrags — als
ein Bestandteil des Sühnevertrags — in das Verfahren vor Gericht
hineingezogen. Die Erfüllung des Beweisvertrags ist eine auſser-
gerichtliche Angelegenheit der paktierenden Parteien, mit welcher das
Gericht als solches sich nicht weiter befaſst. Demgemäſs wird das
Verhandlungsprinzip in seiner vollen Konsequenz auf das Beweis-
verfahren ausgedehnt. Der Beweis, welchen die Partei auf Grund
des Urteils angelobt, wird von ihr nicht dem Gerichte, sondern dem
Prozeſsgegner geliefert. Das Beweisverfahren ist der richterlichen
Prüfung entzogen; die Stelle derselben vertritt gemäſs dem Walten
der Verhandlungsmaxime die Herrschaft der Form im Beweisverfahren.
Die Glaubwürdigkeit der Beweismittel beruht nicht wie nach dem
modernen Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der subjektiven
Überzeugung des Gerichts, sondern auf dem Glauben, welchen die
allgemeine Volksüberzeugung bestimmten beweisrechtlichen Handlungen
beilegt. Die germanischen Beweismittel sind formaler Natur. Der
aus der Volksüberzeugung hervorgehende Gesamtwille bestimmt ein
für allemal die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein
Beweis für erbracht gelten könne. Eben darin beruht aber das
juristische Wesen der Form, daſs die Gesamtheit ihren Willen und
ihre Anschauungen über den Willen und die Anschauungen der
Individuen stellt 13.

12 Lex Sal. 53.
13 Schwurgerichte S 48. Die Ausführungen Richard Loenings, Der Reini-
gungseid S 45 f. sind, soweit ich sie für zutreffend halten kann, im wesentlichen
eine Umschreibung dessen, was ich a. O. und Verhandlungen des deutschen Juristen-
tags IX 335 bemerkt habe. Daſs das germanische Beweisrecht formeller Natur sei,
muſs ich nach wie vor behaupten. Freilich erklärt das Recht die Beweismittel nicht
wegen ihrer Form an sich für beweiskräftig; allein dadurch, daſs es gewisse Hand-
lungen in ihrer äuſseren Erscheinung als Beweismittel anerkennt, macht es sie zur
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[181/0199] § 23. Der Rechtsgang. zu wählen 12. Aus einem auſsergerichtlichen Beweisgedinge erklärt sich der Ursprung des Beweises durch Geschäftszeugen. Bei Abschluſs eines Rechtsgeschäftes oder bei Vornahme eines sonstigen Rechtsaktes konnte sofort die Form vereinbart werden, in welcher der Beweis des Rechtsgeschäftes oder des Rechtsaktes zu erbringen sei, wenn sie hinterher bestritten würden. Die Kontrahenten zogen bei dem Abschluſs des Geschäftes Zeugen zu, indem sie verabredeten, daſs der Eid dieser Zeugen eventuell den Abschluſs und den Inhalt des Rechtsgeschäftes feststellen solle. Da die Thätigkeit des Gerichtes sich darauf beschränkt, einen Sühnevertrag der Parteien zustande zu bringen, wird von dem ge- samten Beweisverfahren nur der Abschluſs des Beweisvertrags — als ein Bestandteil des Sühnevertrags — in das Verfahren vor Gericht hineingezogen. Die Erfüllung des Beweisvertrags ist eine auſser- gerichtliche Angelegenheit der paktierenden Parteien, mit welcher das Gericht als solches sich nicht weiter befaſst. Demgemäſs wird das Verhandlungsprinzip in seiner vollen Konsequenz auf das Beweis- verfahren ausgedehnt. Der Beweis, welchen die Partei auf Grund des Urteils angelobt, wird von ihr nicht dem Gerichte, sondern dem Prozeſsgegner geliefert. Das Beweisverfahren ist der richterlichen Prüfung entzogen; die Stelle derselben vertritt gemäſs dem Walten der Verhandlungsmaxime die Herrschaft der Form im Beweisverfahren. Die Glaubwürdigkeit der Beweismittel beruht nicht wie nach dem modernen Grundsatz der freien Beweiswürdigung auf der subjektiven Überzeugung des Gerichts, sondern auf dem Glauben, welchen die allgemeine Volksüberzeugung bestimmten beweisrechtlichen Handlungen beilegt. Die germanischen Beweismittel sind formaler Natur. Der aus der Volksüberzeugung hervorgehende Gesamtwille bestimmt ein für allemal die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Beweis für erbracht gelten könne. Eben darin beruht aber das juristische Wesen der Form, daſs die Gesamtheit ihren Willen und ihre Anschauungen über den Willen und die Anschauungen der Individuen stellt 13. 12 Lex Sal. 53. 13 Schwurgerichte S 48. Die Ausführungen Richard Loenings, Der Reini- gungseid S 45 f. sind, soweit ich sie für zutreffend halten kann, im wesentlichen eine Umschreibung dessen, was ich a. O. und Verhandlungen des deutschen Juristen- tags IX 335 bemerkt habe. Daſs das germanische Beweisrecht formeller Natur sei, muſs ich nach wie vor behaupten. Freilich erklärt das Recht die Beweismittel nicht wegen ihrer Form an sich für beweiskräftig; allein dadurch, daſs es gewisse Hand- lungen in ihrer äuſseren Erscheinung als Beweismittel anerkennt, macht es sie zur

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/199>, abgerufen am 28.11.2024.