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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sächsischen Dingstätten die im sächsischen Heliand genannten eusagon,
Rechtsager, Männer von anerkannter Rechtskunde, welche auf Ver-
langen Rechtsbelehrung erteilten42. Wohl aber kennen jüngere ost-
fälische und holsteinische Rechtsquellen die Stellung eines Urteil-
finders43, der als ein Analogon des bairischen esago angesehen
werden darf.

Von den Angelsachsen wird zwar behauptet, dass bei ihnen die
Rechtsprechung Sache des vorsitzenden Richters gewesen sei44. Allein
diese Annahme lässt sich mit den Urkunden über Gerichtsverhand-
lungen und mit den angelsächsischen Gesetzen nicht in Einklang
bringen. Regelmässig wird darin eine urteilende Mehrheit von Ding-
leuten vorausgesetzt und ist es die Gerichtsversammlung als solche,
welche das Urteil fällt, indem sie dem Urteilsvorschlage beitritt,
welchen die sapientes, die sogen. witan, gefunden haben45. Daneben
finden sich allerdings auch Spuren einer rechtweisenden und recht-

42 Im Heliand 3801 wird Jesus angeredet: Huat, thu bist eusago ... allon
thiodon uuisis uuares so filo (was! du bist Rechtweiser ... allem Volke weisest
du Wahres so viel) ... Nu uui thi fragon sculun riki thiodan, huilik recht habit
thie kesur fan Rumu? ... Rad for thinon landmagon uuel. Als die Juden be-
raten, wie sie Jesum anklagen könnten, uuarth thar eusago an morgentid manag
gisamnod. Hel. 5058. Die eusagon erscheinen auch vor Gericht. Hel. 4466:
eusagon alla cumana an huarf. Dass der altsächsische eusago ein Beamter, ein
ständiger Urteilfinder nach Art des bairischen iudex, des friesischen asega gewesen
sei, lässt sich nicht erweisen.
43 Als solcher fungiert für die Fronurteile nach Ssp I 59 § 2 der Schultheiss
im Gerichte des Grafen, nach Richtsteig Ldr. I 2 der Unterrichter im Gerichte des
Oberrichters. Bei den Holsten beantwortet ein Vorsprecher der Dingleute die
Hegungsfragen und haben diese für die übrigen Urteile einen sog. Abfinder zum
Obmann. Falck, Handb. des schleswig-holsteinschen Privatrechts III 88. Schrö-
der,
Z2 f. RG VII 3. 13.
44 Hermann a. O. S 38. 39. 233.
45 Kemble, Cod. dipl. Nr 220: iudicium unanimi consensu constituerunt;
Nr 219: da geraechte Uulfred arcebiscop ond alle da wiotan; Nr 256: tunc a sapi-
entibus et prudentibus trutinatum ac dijudicatum est; Nr 323: sed Aethelred et
illi omnes adiudicabant; Nr 1237: optimates autem et sapientes pro iustitia in-
venerunt; Nr. 1019: omnium voce decretum est; Nr 1258: gesohtan da dane ealdor-
man E. and daet folc ... and geneddan danne biscop ... Auf den Anteil des
Gerichtsvolkes an der Urteilfällung deutet Knut II 35, 1: dem sippelosen Fremden
soll man kein schlimmeres Urteil sprechen als dem Genossen. In Schmid, An-
hang XIII entscheidet das Urteil der ältesten Männer, die zur Burg gehören. Nach
Aethelred 3, 13 soll das Urteil Bestand haben, wenn die Thane einig sind. Leges
Henrici I. c. 5 § 6: vincat sententia plurimorum; c. 31 § 2: sententia meliorum.
Von dem Hundertschaftsgerichte, welchem der Gerefa als Richter vorsitzt, ist es
zweifellos, dass nicht dieser, sondern die Gerichtsgemeinde das Urteil sprach. Der
hundredes dom in Edgar I § 3, dessen Schelte der Hundertschaft gebüsst wird,

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
sächsischen Dingstätten die im sächsischen Heliand genannten eusagon,
Rechtsager, Männer von anerkannter Rechtskunde, welche auf Ver-
langen Rechtsbelehrung erteilten42. Wohl aber kennen jüngere ost-
fälische und holsteinische Rechtsquellen die Stellung eines Urteil-
finders43, der als ein Analogon des bairischen êsago angesehen
werden darf.

Von den Angelsachsen wird zwar behauptet, daſs bei ihnen die
Rechtsprechung Sache des vorsitzenden Richters gewesen sei44. Allein
diese Annahme läſst sich mit den Urkunden über Gerichtsverhand-
lungen und mit den angelsächsischen Gesetzen nicht in Einklang
bringen. Regelmäſsig wird darin eine urteilende Mehrheit von Ding-
leuten vorausgesetzt und ist es die Gerichtsversammlung als solche,
welche das Urteil fällt, indem sie dem Urteilsvorschlage beitritt,
welchen die sapientes, die sogen. witan, gefunden haben45. Daneben
finden sich allerdings auch Spuren einer rechtweisenden und recht-

42 Im Heliand 3801 wird Jesus angeredet: Huat, thu bist eusago … allon
thiodon uuisis uuares so filo (was! du bist Rechtweiser … allem Volke weisest
du Wahres so viel) … Nu uui thi fragon sculun riki thiodan, huilik recht habit
thie kesur fan Rumu? … Rad for thinon landmagon uuel. Als die Juden be-
raten, wie sie Jesum anklagen könnten, uuarth thar eusago an morgentid manag
gisamnod. Hel. 5058. Die eusagon erscheinen auch vor Gericht. Hel. 4466:
eusagon alla cumana an huarf. Daſs der altsächsische eusago ein Beamter, ein
ständiger Urteilfinder nach Art des bairischen iudex, des friesischen asega gewesen
sei, läſst sich nicht erweisen.
43 Als solcher fungiert für die Fronurteile nach Ssp I 59 § 2 der Schultheiſs
im Gerichte des Grafen, nach Richtsteig Ldr. I 2 der Unterrichter im Gerichte des
Oberrichters. Bei den Holsten beantwortet ein Vorsprecher der Dingleute die
Hegungsfragen und haben diese für die übrigen Urteile einen sog. Abfinder zum
Obmann. Falck, Handb. des schleswig-holsteinschen Privatrechts III 88. Schrö-
der,
Z2 f. RG VII 3. 13.
44 Hermann a. O. S 38. 39. 233.
45 Kemble, Cod. dipl. Nr 220: iudicium unanimi consensu constituerunt;
Nr 219: da geræchte Uulfred arcebiscop ond alle da wiotan; Nr 256: tunc a sapi-
entibus et prudentibus trutinatum ac dijudicatum est; Nr 323: sed Aethelred et
illi omnes adiudicabant; Nr 1237: optimates autem et sapientes pro iustitia in-
venerunt; Nr. 1019: omnium voce decretum est; Nr 1258: gesohtan da dane ealdor-
man E. and dæt folc … and geneddan danne biscop … Auf den Anteil des
Gerichtsvolkes an der Urteilfällung deutet Knut II 35, 1: dem sippelosen Fremden
soll man kein schlimmeres Urteil sprechen als dem Genossen. In Schmid, An-
hang XIII entscheidet das Urteil der ältesten Männer, die zur Burg gehören. Nach
Aethelred 3, 13 soll das Urteil Bestand haben, wenn die Thane einig sind. Leges
Henrici I. c. 5 § 6: vincat sententia plurimorum; c. 31 § 2: sententia meliorum.
Von dem Hundertschaftsgerichte, welchem der Gerefa als Richter vorsitzt, ist es
zweifellos, daſs nicht dieser, sondern die Gerichtsgemeinde das Urteil sprach. Der
hundredes dôm in Edgar I § 3, dessen Schelte der Hundertschaft gebüſst wird,
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[152/0170] § 20. Die Gerichtsverfassung. sächsischen Dingstätten die im sächsischen Heliand genannten eusagon, Rechtsager, Männer von anerkannter Rechtskunde, welche auf Ver- langen Rechtsbelehrung erteilten 42. Wohl aber kennen jüngere ost- fälische und holsteinische Rechtsquellen die Stellung eines Urteil- finders 43, der als ein Analogon des bairischen êsago angesehen werden darf. Von den Angelsachsen wird zwar behauptet, daſs bei ihnen die Rechtsprechung Sache des vorsitzenden Richters gewesen sei 44. Allein diese Annahme läſst sich mit den Urkunden über Gerichtsverhand- lungen und mit den angelsächsischen Gesetzen nicht in Einklang bringen. Regelmäſsig wird darin eine urteilende Mehrheit von Ding- leuten vorausgesetzt und ist es die Gerichtsversammlung als solche, welche das Urteil fällt, indem sie dem Urteilsvorschlage beitritt, welchen die sapientes, die sogen. witan, gefunden haben 45. Daneben finden sich allerdings auch Spuren einer rechtweisenden und recht- 42 Im Heliand 3801 wird Jesus angeredet: Huat, thu bist eusago … allon thiodon uuisis uuares so filo (was! du bist Rechtweiser … allem Volke weisest du Wahres so viel) … Nu uui thi fragon sculun riki thiodan, huilik recht habit thie kesur fan Rumu? … Rad for thinon landmagon uuel. Als die Juden be- raten, wie sie Jesum anklagen könnten, uuarth thar eusago an morgentid manag gisamnod. Hel. 5058. Die eusagon erscheinen auch vor Gericht. Hel. 4466: eusagon alla cumana an huarf. Daſs der altsächsische eusago ein Beamter, ein ständiger Urteilfinder nach Art des bairischen iudex, des friesischen asega gewesen sei, läſst sich nicht erweisen. 43 Als solcher fungiert für die Fronurteile nach Ssp I 59 § 2 der Schultheiſs im Gerichte des Grafen, nach Richtsteig Ldr. I 2 der Unterrichter im Gerichte des Oberrichters. Bei den Holsten beantwortet ein Vorsprecher der Dingleute die Hegungsfragen und haben diese für die übrigen Urteile einen sog. Abfinder zum Obmann. Falck, Handb. des schleswig-holsteinschen Privatrechts III 88. Schrö- der, Z2 f. RG VII 3. 13. 44 Hermann a. O. S 38. 39. 233. 45 Kemble, Cod. dipl. Nr 220: iudicium unanimi consensu constituerunt; Nr 219: da geræchte Uulfred arcebiscop ond alle da wiotan; Nr 256: tunc a sapi- entibus et prudentibus trutinatum ac dijudicatum est; Nr 323: sed Aethelred et illi omnes adiudicabant; Nr 1237: optimates autem et sapientes pro iustitia in- venerunt; Nr. 1019: omnium voce decretum est; Nr 1258: gesohtan da dane ealdor- man E. and dæt folc … and geneddan danne biscop … Auf den Anteil des Gerichtsvolkes an der Urteilfällung deutet Knut II 35, 1: dem sippelosen Fremden soll man kein schlimmeres Urteil sprechen als dem Genossen. In Schmid, An- hang XIII entscheidet das Urteil der ältesten Männer, die zur Burg gehören. Nach Aethelred 3, 13 soll das Urteil Bestand haben, wenn die Thane einig sind. Leges Henrici I. c. 5 § 6: vincat sententia plurimorum; c. 31 § 2: sententia meliorum. Von dem Hundertschaftsgerichte, welchem der Gerefa als Richter vorsitzt, ist es zweifellos, daſs nicht dieser, sondern die Gerichtsgemeinde das Urteil sprach. Der hundredes dôm in Edgar I § 3, dessen Schelte der Hundertschaft gebüſst wird,

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/170>, abgerufen am 22.11.2024.