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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 18. Die Landesgemeinde.
Es muss aber auch Rechtssachen gegeben haben, die ihr vorbehalten
waren, da gewiss nur durch sie die Friedlosigkeit für das ganze Ge-
biet der civitas verhängt werden konnte. Sie scheint auch ausschliess-
lich über Verbrechen entschieden zu haben, durch die man sich das
ganze Volk und seine Götter zum Feinde machte, insbesondere über
Verbrechen politisch-militärischer Natur, wie Landesverrat, Übergang
zum Feinde und Feigheit.

Die Eröffnung der Versammlung ist ein religiöser Akt 11. Sie
erfolgt durch ein Friedensgebot, welches nach Tacitus die Priester
verkünden, denen es zugleich obliegt, die Verletzung des Friedens
zu ahnden 12. Wer den Vorsitz und die Leitung der Landesgemeinde
hatte, wird uns nicht berichtet. In Staaten mit Königtum war es wohl
der König. Was die Völkerschaften mit Vielherrschaft betrifft, so
mag es dahin gestellt bleiben, ob etwa der Völkerschaftspriester das
concilium leitete oder, was wahrscheinlicher ist, der princeps des
Gaus, in welchem es tagte. Der König oder einer der Fürsten tragen
die Angelegenheiten vor, über welche die Versammlung von Staats
wegen Beschluss fassen soll. Doch ist das Recht der Rede nicht auf
jene beschränkt 13. Über die vor die Landesgemeinde gebrachten An-
träge entscheidet das versammelte Volk mit gesamtem Munde, indem
es seine Missbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung
durch Waffenschlag zu erkennen giebt. Die von Tacitus mehrfach
berichtete Sitte des Waffenschlags wird durch übereinstimmende jüngere
Nachrichten als eine gemeingermanische in helleres Licht gesetzt 14.
Nach ihnen erscheint das Rühren der Speere, bei den Franken auch
das Zusammenschlagen der Schilde 15 als eine besonders feierliche Form,

11 Die jüngeren Nachrichten, welche wir über den Formalismus der Eröffnung
des Dings besitzen, beziehen sich nur auf Gerichtsversammlungen. Sie sollen daher
unten in § 20 bei Darstellung des Gerichtswesens verwertet werden.
12 Germ. c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coercendi ius est,
imperatur.
13 Man hat die Beschränkung aus Germ. c. 11 folgern wollen: mox rex vel
princeps, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia
est, audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. Allein das
Gegenteil folgt schon aus der gerichtlichen Thätigkeit des concilium. Licet apud
concilium accusare sagt Tacitus, und man wird nicht behaupten wollen, dass nur
der König oder die Fürsten klagen durften. Sickel, Freistaat S 40 Anm 11.
14 Konrad Maurer, Über das vapnatak der nordischen Rechte, Germania
von Bartsch XVI 317 ff. im Anschluss an S. Grundtvig, Om de Gotiske Folks
Vabened, in Det kong. danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger 1870. Schrö-
der
, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53 und RG I 18.
15 Von der Wahl Chlodovechs durch die ribuarischen Franken erzählt Gregor

§ 18. Die Landesgemeinde.
Es muſs aber auch Rechtssachen gegeben haben, die ihr vorbehalten
waren, da gewiſs nur durch sie die Friedlosigkeit für das ganze Ge-
biet der civitas verhängt werden konnte. Sie scheint auch ausschlieſs-
lich über Verbrechen entschieden zu haben, durch die man sich das
ganze Volk und seine Götter zum Feinde machte, insbesondere über
Verbrechen politisch-militärischer Natur, wie Landesverrat, Übergang
zum Feinde und Feigheit.

Die Eröffnung der Versammlung ist ein religiöser Akt 11. Sie
erfolgt durch ein Friedensgebot, welches nach Tacitus die Priester
verkünden, denen es zugleich obliegt, die Verletzung des Friedens
zu ahnden 12. Wer den Vorsitz und die Leitung der Landesgemeinde
hatte, wird uns nicht berichtet. In Staaten mit Königtum war es wohl
der König. Was die Völkerschaften mit Vielherrschaft betrifft, so
mag es dahin gestellt bleiben, ob etwa der Völkerschaftspriester das
concilium leitete oder, was wahrscheinlicher ist, der princeps des
Gaus, in welchem es tagte. Der König oder einer der Fürsten tragen
die Angelegenheiten vor, über welche die Versammlung von Staats
wegen Beschluſs fassen soll. Doch ist das Recht der Rede nicht auf
jene beschränkt 13. Über die vor die Landesgemeinde gebrachten An-
träge entscheidet das versammelte Volk mit gesamtem Munde, indem
es seine Miſsbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung
durch Waffenschlag zu erkennen giebt. Die von Tacitus mehrfach
berichtete Sitte des Waffenschlags wird durch übereinstimmende jüngere
Nachrichten als eine gemeingermanische in helleres Licht gesetzt 14.
Nach ihnen erscheint das Rühren der Speere, bei den Franken auch
das Zusammenschlagen der Schilde 15 als eine besonders feierliche Form,

11 Die jüngeren Nachrichten, welche wir über den Formalismus der Eröffnung
des Dings besitzen, beziehen sich nur auf Gerichtsversammlungen. Sie sollen daher
unten in § 20 bei Darstellung des Gerichtswesens verwertet werden.
12 Germ. c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coërcendi ius est,
imperatur.
13 Man hat die Beschränkung aus Germ. c. 11 folgern wollen: mox rex vel
princeps, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia
est, audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. Allein das
Gegenteil folgt schon aus der gerichtlichen Thätigkeit des concilium. Licet apud
concilium accusare sagt Tacitus, und man wird nicht behaupten wollen, daſs nur
der König oder die Fürsten klagen durften. Sickel, Freistaat S 40 Anm 11.
14 Konrad Maurer, Über das vápnatak der nordischen Rechte, Germania
von Bartsch XVI 317 ff. im Anschluſs an S. Grundtvig, Om de Gotiske Folks
Våbenéd, in Det kong. danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger 1870. Schrö-
der
, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53 und RG I 18.
15 Von der Wahl Chlodovechs durch die ribuarischen Franken erzählt Gregor
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[130/0148] § 18. Die Landesgemeinde. Es muſs aber auch Rechtssachen gegeben haben, die ihr vorbehalten waren, da gewiſs nur durch sie die Friedlosigkeit für das ganze Ge- biet der civitas verhängt werden konnte. Sie scheint auch ausschlieſs- lich über Verbrechen entschieden zu haben, durch die man sich das ganze Volk und seine Götter zum Feinde machte, insbesondere über Verbrechen politisch-militärischer Natur, wie Landesverrat, Übergang zum Feinde und Feigheit. Die Eröffnung der Versammlung ist ein religiöser Akt 11. Sie erfolgt durch ein Friedensgebot, welches nach Tacitus die Priester verkünden, denen es zugleich obliegt, die Verletzung des Friedens zu ahnden 12. Wer den Vorsitz und die Leitung der Landesgemeinde hatte, wird uns nicht berichtet. In Staaten mit Königtum war es wohl der König. Was die Völkerschaften mit Vielherrschaft betrifft, so mag es dahin gestellt bleiben, ob etwa der Völkerschaftspriester das concilium leitete oder, was wahrscheinlicher ist, der princeps des Gaus, in welchem es tagte. Der König oder einer der Fürsten tragen die Angelegenheiten vor, über welche die Versammlung von Staats wegen Beschluſs fassen soll. Doch ist das Recht der Rede nicht auf jene beschränkt 13. Über die vor die Landesgemeinde gebrachten An- träge entscheidet das versammelte Volk mit gesamtem Munde, indem es seine Miſsbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung durch Waffenschlag zu erkennen giebt. Die von Tacitus mehrfach berichtete Sitte des Waffenschlags wird durch übereinstimmende jüngere Nachrichten als eine gemeingermanische in helleres Licht gesetzt 14. Nach ihnen erscheint das Rühren der Speere, bei den Franken auch das Zusammenschlagen der Schilde 15 als eine besonders feierliche Form, 11 Die jüngeren Nachrichten, welche wir über den Formalismus der Eröffnung des Dings besitzen, beziehen sich nur auf Gerichtsversammlungen. Sie sollen daher unten in § 20 bei Darstellung des Gerichtswesens verwertet werden. 12 Germ. c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coërcendi ius est, imperatur. 13 Man hat die Beschränkung aus Germ. c. 11 folgern wollen: mox rex vel princeps, prout aetas cuique, prout nobilitas, prout decus bellorum, prout facundia est, audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. Allein das Gegenteil folgt schon aus der gerichtlichen Thätigkeit des concilium. Licet apud concilium accusare sagt Tacitus, und man wird nicht behaupten wollen, daſs nur der König oder die Fürsten klagen durften. Sickel, Freistaat S 40 Anm 11. 14 Konrad Maurer, Über das vápnatak der nordischen Rechte, Germania von Bartsch XVI 317 ff. im Anschluſs an S. Grundtvig, Om de Gotiske Folks Våbenéd, in Det kong. danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger 1870. Schrö- der, Gairethinx, Z 2 f. RG VII 53 und RG I 18. 15 Von der Wahl Chlodovechs durch die ribuarischen Franken erzählt Gregor

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/148>, abgerufen am 26.11.2024.