Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 16. Die politischen Verbände. einen blossen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheits-staat 10 zu erklären, geht zu weit 11. Doch mochten kleinere civitates nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, dass ein- zelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Über- gangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des Bundesstaats besass, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer Völkerschaften zu einem grösseren Einheitsstaat durch ein bundes- staatliches Verhältnis vermittelt werden konnte. Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem 10 So Dahn a. O.; Arnold, Urzeit S 327. 328. 11 Kam es doch auch während des dreissigjährigen Krieges vor, dass einzelne Reichskreise Bündnisse mit einem der kriegführenden Teile abschlossen. Pütter, Handb. der teutschen Reichshistorie II 638. 641. 676. 12 Nach Grimm, WB IV 2 S 1923 wurde das Wort Hundert, altnord. hun- drad, ags. u. fries. hundred, alts. hunderod, ursprünglich auf die Einteilung des Volkes in Reihen von Hundert angewendet, und scheint hunderod auf ein Verbum hunderon zurückzuführen mit der Bedeutung in Gruppen von hundert gliedern. 13 Fasst man die Hundertschaft als Unterabteilung des pagus, so setzt man
sich in Widerspruch mit der Thatsache, dass die römischen Schriftsteller ein Zwischenglied zwischen pagus und vicus nicht kennen. Wer dagegen, um den Hundertschaftsbezirk zu retten, ihn mit dem pagus identifiziert, muss die Nach- richten Cäsars, die auf einen grösseren Umfang der germanischen Gaue hindeuten, als unglaubwürdig verwerfen, die Analogie der keltischen Gaueinteilung fallen lassen und die centeni des Tacitus in Germ. c. 6 und c. 12 für Missverständnisse erklären. Da nach Germ. c. 6 jeder einzelne Gau je hundert Mann zu der aus Reitern und Fussgängern gemischten Sondertruppe stellte, so muss die Zahl der sonstigen Heer- männer des Gaues so erheblich gewesen sein, dass die Bezeichnung Hundertschaft für den Gau schon damals schlechterdings nicht mehr gepasst hätte. Vgl. über die Kontroverse W. Sickel, Freistaat S 90 f.; Waitz, VG I 222 f. § 16. Die politischen Verbände. einen bloſsen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheits-staat 10 zu erklären, geht zu weit 11. Doch mochten kleinere civitates nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, daſs ein- zelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Über- gangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des Bundesstaats besaſs, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer Völkerschaften zu einem gröſseren Einheitsstaat durch ein bundes- staatliches Verhältnis vermittelt werden konnte. Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem 10 So Dahn a. O.; Arnold, Urzeit S 327. 328. 11 Kam es doch auch während des dreiſsigjährigen Krieges vor, daſs einzelne Reichskreise Bündnisse mit einem der kriegführenden Teile abschlossen. Pütter, Handb. der teutschen Reichshistorie II 638. 641. 676. 12 Nach Grimm, WB IV 2 S 1923 wurde das Wort Hundert, altnord. hun- drad, ags. u. fries. hundred, alts. hunderôd, ursprünglich auf die Einteilung des Volkes in Reihen von Hundert angewendet, und scheint hunderôd auf ein Verbum hunderôn zurückzuführen mit der Bedeutung in Gruppen von hundert gliedern. 13 Faſst man die Hundertschaft als Unterabteilung des pagus, so setzt man
sich in Widerspruch mit der Thatsache, daſs die römischen Schriftsteller ein Zwischenglied zwischen pagus und vicus nicht kennen. Wer dagegen, um den Hundertschaftsbezirk zu retten, ihn mit dem pagus identifiziert, muſs die Nach- richten Cäsars, die auf einen gröſseren Umfang der germanischen Gaue hindeuten, als unglaubwürdig verwerfen, die Analogie der keltischen Gaueinteilung fallen lassen und die centeni des Tacitus in Germ. c. 6 und c. 12 für Miſsverständnisse erklären. Da nach Germ. c. 6 jeder einzelne Gau je hundert Mann zu der aus Reitern und Fuſsgängern gemischten Sondertruppe stellte, so muſs die Zahl der sonstigen Heer- männer des Gaues so erheblich gewesen sein, daſs die Bezeichnung Hundertschaft für den Gau schon damals schlechterdings nicht mehr gepaſst hätte. Vgl. über die Kontroverse W. Sickel, Freistaat S 90 f.; Waitz, VG I 222 f. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0134" n="116"/><fw place="top" type="header">§ 16. Die politischen Verbände.</fw><lb/> einen bloſsen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheits-<lb/> staat <note place="foot" n="10">So <hi rendition="#g">Dahn a. O.; Arnold</hi>, Urzeit S 327. 328.</note> zu erklären, geht zu weit <note place="foot" n="11">Kam es doch auch während des dreiſsigjährigen Krieges vor, daſs einzelne<lb/> Reichskreise Bündnisse mit einem der kriegführenden Teile abschlossen. <hi rendition="#g">Pütter</hi>,<lb/> Handb. der teutschen Reichshistorie II 638. 641. 676.</note>. Doch mochten kleinere civitates<lb/> nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, daſs ein-<lb/> zelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Über-<lb/> gangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des<lb/> Bundesstaats besaſs, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer<lb/> Völkerschaften zu einem gröſseren Einheitsstaat durch ein bundes-<lb/> staatliches Verhältnis vermittelt werden konnte.</p><lb/> <p>Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl<lb/> kleinerer persönlicher Verbände, Hundertschaften, Hunderte <note place="foot" n="12">Nach <hi rendition="#g">Grimm</hi>, WB IV 2 S 1923 wurde das Wort Hundert, altnord. hun-<lb/> drad, ags. u. fries. hundred, alts. hunderôd, ursprünglich auf die Einteilung des<lb/> Volkes in Reihen von Hundert angewendet, und scheint hunderôd auf ein Verbum<lb/> hunderôn zurückzuführen mit der Bedeutung in Gruppen von hundert gliedern.</note>, ein-<lb/> geteilt, welche in erster Linie den Zwecken des Heerwesens, in zweiter<lb/> den Zwecken der Rechtspflege zu dienen bestimmt waren. Daſs die<lb/> Hundertschaft ursprünglich ein reiner Zahlbegriff war, der auf die<lb/> Gliederung des Heeres zurückging, wird allgemein angenommen. Die<lb/> herrschende Meinung sieht aber in der Hundertschaft bereits zur Zeit<lb/> des Cäsar und des Tacitus einen räumlichen Begriff, einen Hundert-<lb/> schaftsbezirk. Der Name habe schon damals nur noch historische Be-<lb/> deutung gehabt als Reminiscenz an die vorgeschichtliche Zeit, in der<lb/> bei der ersten Besiedelung des Landes ein Heerhaufe von hundert<lb/> Mann das ihm zugewiesene Gebiet besetzt habe <note place="foot" n="13">Faſst man die Hundertschaft als Unterabteilung des pagus, so setzt man<lb/> sich in Widerspruch mit der Thatsache, daſs die römischen Schriftsteller ein<lb/> Zwischenglied zwischen pagus und vicus nicht kennen. Wer dagegen, um den<lb/> Hundertschaftsbezirk zu retten, ihn mit dem pagus identifiziert, muſs die Nach-<lb/> richten Cäsars, die auf einen gröſseren Umfang der germanischen Gaue hindeuten,<lb/> als unglaubwürdig verwerfen, die Analogie der keltischen Gaueinteilung fallen lassen<lb/> und die centeni des Tacitus in Germ. c. 6 und c. 12 für Miſsverständnisse erklären.<lb/> Da nach Germ. c. 6 jeder einzelne Gau je hundert Mann zu der aus Reitern und<lb/> Fuſsgängern gemischten Sondertruppe stellte, so muſs die Zahl der sonstigen Heer-<lb/> männer des Gaues so erheblich gewesen sein, daſs die Bezeichnung Hundertschaft<lb/> für den Gau schon damals schlechterdings nicht mehr gepaſst hätte. Vgl. über die<lb/> Kontroverse W. <hi rendition="#g">Sickel</hi>, Freistaat S 90 f.; <hi rendition="#g">Waitz</hi>, VG I 222 f.</note>.</p><lb/> <p>Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem<lb/> späteren Vorkommen räumlicher Hundertschaften bei verschiedenen<lb/> germanischen Stämmen erschlieſsen zu müssen. Genau besehen be-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [116/0134]
§ 16. Die politischen Verbände.
einen bloſsen Staatenbund, den Gau für den germanischen Einheits-
staat 10 zu erklären, geht zu weit 11. Doch mochten kleinere civitates
nicht weiter in Gaue zerfallen und konnte es vorkommen, daſs ein-
zelne Gaue zu selbständigen civitates emporwuchsen und in den Über-
gangsphasen solcher Entwicklungen die civitas den Charakter des
Bundesstaats besaſs, wie andrerseits die Verschmelzung mehrerer
Völkerschaften zu einem gröſseren Einheitsstaat durch ein bundes-
staatliches Verhältnis vermittelt werden konnte.
Die Bewohner des Gaues, die Gauleute, sind in eine Anzahl
kleinerer persönlicher Verbände, Hundertschaften, Hunderte 12, ein-
geteilt, welche in erster Linie den Zwecken des Heerwesens, in zweiter
den Zwecken der Rechtspflege zu dienen bestimmt waren. Daſs die
Hundertschaft ursprünglich ein reiner Zahlbegriff war, der auf die
Gliederung des Heeres zurückging, wird allgemein angenommen. Die
herrschende Meinung sieht aber in der Hundertschaft bereits zur Zeit
des Cäsar und des Tacitus einen räumlichen Begriff, einen Hundert-
schaftsbezirk. Der Name habe schon damals nur noch historische Be-
deutung gehabt als Reminiscenz an die vorgeschichtliche Zeit, in der
bei der ersten Besiedelung des Landes ein Heerhaufe von hundert
Mann das ihm zugewiesene Gebiet besetzt habe 13.
Den altgermanischen Hundertschaftsbezirk glaubt man aus dem
späteren Vorkommen räumlicher Hundertschaften bei verschiedenen
germanischen Stämmen erschlieſsen zu müssen. Genau besehen be-
10 So Dahn a. O.; Arnold, Urzeit S 327. 328.
11 Kam es doch auch während des dreiſsigjährigen Krieges vor, daſs einzelne
Reichskreise Bündnisse mit einem der kriegführenden Teile abschlossen. Pütter,
Handb. der teutschen Reichshistorie II 638. 641. 676.
12 Nach Grimm, WB IV 2 S 1923 wurde das Wort Hundert, altnord. hun-
drad, ags. u. fries. hundred, alts. hunderôd, ursprünglich auf die Einteilung des
Volkes in Reihen von Hundert angewendet, und scheint hunderôd auf ein Verbum
hunderôn zurückzuführen mit der Bedeutung in Gruppen von hundert gliedern.
13 Faſst man die Hundertschaft als Unterabteilung des pagus, so setzt man
sich in Widerspruch mit der Thatsache, daſs die römischen Schriftsteller ein
Zwischenglied zwischen pagus und vicus nicht kennen. Wer dagegen, um den
Hundertschaftsbezirk zu retten, ihn mit dem pagus identifiziert, muſs die Nach-
richten Cäsars, die auf einen gröſseren Umfang der germanischen Gaue hindeuten,
als unglaubwürdig verwerfen, die Analogie der keltischen Gaueinteilung fallen lassen
und die centeni des Tacitus in Germ. c. 6 und c. 12 für Miſsverständnisse erklären.
Da nach Germ. c. 6 jeder einzelne Gau je hundert Mann zu der aus Reitern und
Fuſsgängern gemischten Sondertruppe stellte, so muſs die Zahl der sonstigen Heer-
männer des Gaues so erheblich gewesen sein, daſs die Bezeichnung Hundertschaft
für den Gau schon damals schlechterdings nicht mehr gepaſst hätte. Vgl. über die
Kontroverse W. Sickel, Freistaat S 90 f.; Waitz, VG I 222 f.
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