Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigenzu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen aus- geschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Ge- sinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Be- urteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch, nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, ent- scheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht ab- gegebenen Erklärungen. Der äussere Erfolg der That, nicht die innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand, weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen lebte. Die verhältnismässig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechts- 9 In Verbindung mit einer Ausgabe der Germania hat Müllenhoff, Ger-
mania antiqua, die auf die Germanen bezüglichen Stellen aus Strabo, Pomponius Mela, Plinius, Ptolomaeus, Julius Capitolinus und anderen römischen und griechi- schen Schriftstellern zusammengestellt. § 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigenzu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen aus- geschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Ge- sinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Be- urteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch, nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, ent- scheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht ab- gegebenen Erklärungen. Der äuſsere Erfolg der That, nicht die innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand, weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen lebte. Die verhältnismäſsig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechts- 9 In Verbindung mit einer Ausgabe der Germania hat Müllenhoff, Ger-
mania antiqua, die auf die Germanen bezüglichen Stellen aus Strabo, Pomponius Mela, Plinius, Ptolomaeus, Julius Capitolinus und anderen römischen und griechi- schen Schriftstellern zusammengestellt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0130" n="112"/><fw place="top" type="header">§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.</fw><lb/> geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigen<lb/> zu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen aus-<lb/> geschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen<lb/> aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen<lb/> Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Ge-<lb/> sinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde<lb/> gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von<lb/> Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Be-<lb/> urteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch,<lb/> nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, ent-<lb/> scheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht ab-<lb/> gegebenen Erklärungen. Der äuſsere Erfolg der That, nicht die<lb/> innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und<lb/> die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen<lb/> Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die<lb/> Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage<lb/> des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die<lb/> Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen<lb/> Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das<lb/> Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses<lb/> freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand,<lb/> weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen<lb/> lebte.</p><lb/> <p>Die verhältnismäſsig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechts-<lb/> zustände, zu welcher die Forschung bisher sich durchgerungen hat,<lb/> schöpfte sie in erster Linie aus den Nachrichten der antiken Schrift-<lb/> steller<note place="foot" n="9">In Verbindung mit einer Ausgabe der Germania hat <hi rendition="#g">Müllenhoff</hi>, Ger-<lb/> mania antiqua, die auf die Germanen bezüglichen Stellen aus Strabo, Pomponius<lb/> Mela, Plinius, Ptolomaeus, Julius Capitolinus und anderen römischen und griechi-<lb/> schen Schriftstellern zusammengestellt.</note>. Unter ihnen ragen die Mitteilungen Cäsars hervor, dem<lb/> seine Kriege mit den Germanen die Gelegenheit gaben, eine persön-<lb/> liche Anschauung ihrer Verhältnisse zu erlangen, und die gegen Ende<lb/> des ersten Jahrhunderts nach Christus entstandene Darstellung, welche<lb/> Tacitus in seiner insgemein als Germania bezeichneten Schrift den<lb/> Anfängen unseres Volkstums gewidmet hat. Ein Vertreter der Rich-<lb/> tung, welche die politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Schäden<lb/> des römischen Reichs auf den Verlust der altrömischen Tugenden<lb/> zurückführt, will Tacitus der römischen Entartung das Spiegelbild<lb/> eines frischen und unverdorbenen Volkstums gegenüberhalten, indem<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [112/0130]
§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
geträumte Ideal germanischer Urwaldsfreiheit traf nur für diejenigen
zu, die als Friedlose, Elende aus dem Kreise der Volksgenossen aus-
geschieden waren. Weil das Volksrecht unmittelbar und ungebrochen
aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgeht, mit gleichartigen
Lebensverhältnissen, gleichartigen Bedürfnissen und gleichartigen Ge-
sinnungen aller Volksgenossen rechnet, verhält es sich hart und spröde
gegen den einzelnen Rechtsfall. Es ist nur für generelle Typen von
Thatbeständen zugeschnitten und bietet keinen Spielraum für die Be-
urteilung des individuellen Falles. Nur der gemeine Sprachgebrauch,
nicht der Sinn, den der einzelne mit seinen Worten verbindet, ent-
scheidet über den Inhalt der im Rechtsverkehr und vor Gericht ab-
gegebenen Erklärungen. Der äuſsere Erfolg der That, nicht die
innere Gesinnung des Thäters bestimmte die rechtliche Natur und
die Folge des Verbrechens. Nicht die freie Prüfung der einzelnen
Beweismomente, sondern die Auffassung der Gesamtheit über die
Glaubwürdigkeit formeller Beweishandlungen bildete die Grundlage
des Beweisrechtes. Nicht die Freiheit des einzelnen, sondern die
Gleichheit der freien Rechtsgenossen ist dem ältesten germanischen
Rechte eigentümlich; sie konnte aber nur durch den gegen das
Individuum geübten Zwang aufrecht erhalten werden, den dieses
freilich nicht oder doch kaum als Härte und Gebundenheit empfand,
weil es als Glied der Gesamtheit im Banne ihrer Anschauungen
lebte.
Die verhältnismäſsig dürftige Kenntnis der urzeitlichen Rechts-
zustände, zu welcher die Forschung bisher sich durchgerungen hat,
schöpfte sie in erster Linie aus den Nachrichten der antiken Schrift-
steller 9. Unter ihnen ragen die Mitteilungen Cäsars hervor, dem
seine Kriege mit den Germanen die Gelegenheit gaben, eine persön-
liche Anschauung ihrer Verhältnisse zu erlangen, und die gegen Ende
des ersten Jahrhunderts nach Christus entstandene Darstellung, welche
Tacitus in seiner insgemein als Germania bezeichneten Schrift den
Anfängen unseres Volkstums gewidmet hat. Ein Vertreter der Rich-
tung, welche die politischen, wirtschaftlichen und sittlichen Schäden
des römischen Reichs auf den Verlust der altrömischen Tugenden
zurückführt, will Tacitus der römischen Entartung das Spiegelbild
eines frischen und unverdorbenen Volkstums gegenüberhalten, indem
9 In Verbindung mit einer Ausgabe der Germania hat Müllenhoff, Ger-
mania antiqua, die auf die Germanen bezüglichen Stellen aus Strabo, Pomponius
Mela, Plinius, Ptolomaeus, Julius Capitolinus und anderen römischen und griechi-
schen Schriftstellern zusammengestellt.
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