Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 14. Die Stände.
lat35, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt
vor36. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz37; jüngere
Denkmäler sagen lazzi38 oder lassi39. Bei den Oberdeutschen und
bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch40. Letztere und
die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der
wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen
weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter
ist dunkel und streitig41.

Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung
durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle ge-
bunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben
zu leisten, besassen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Ver-
träge zu schliessen42, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit
aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen43.
Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn44. Sie
hatten das Fehderecht45 und ein Wergeld, welches mindestens zum
Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht
scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben46. Am strengsten
ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte

35 Im Sachsenspiegel und in den bei Waitz V 203 angeführten Stellen.
36 Hessels a. O. Lex Chamavorum c. 5, 44. 45. Waitz a. O. Anm 3.
37 Zu Lex Rib. 62, 1: LL V 277. Lazi in der Urk. Ludwigs des Deutschen
Wilmans, KU I 143.
38 Bei Nithard IV 2, Mon. Germ. SS II 668.
39 In der vita Lebuini MG SS II 361.
40 Der litus und die lesa des Pactus Alam. sind, weil auf fränkische Einflüsse
zurückführend, kein Gegenbeweis. S. unten § 41.
41 Letus erklärt Müllenhoff bei Waitz, Altes Recht S 288 als manens,
mansionarius, indem er ein verlorenes Verbum litan mit der Bedeutung manere
voraussetzt. Vgl. Brunner, Freil. durch Schatzwurf S 68 Anm 3. Aldio leitet
Grimm u. a. von altinon, morari ab, Bluhme denkt LL IV 672 an Zusammen-
hang mit halten. Vielleicht liegt ein Kompositum von ahd. deo, teo, got. thius vor.
42 Lex Sal. 50.
43 Lex Fris. 11, 2.
44 Arg. Liu. 139; Lex Sax. c. 65. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax.
S 295 f. Anm.
45 Lex Fris. 2, 5. 8.
46 Für das fries. Recht folgert den Mangel des Erbrechts v. Amira, Erben-
folge S 143 aus dem Anspruch des Herrn auf die Erbenbusse. Lex Chamav. c. 14
ist wohl auch auf den Liten zu beziehen. Noch das Hofrecht der Stiftsgüter von
Essen im Salland v. J. 1270 verfügt, dass die Söhne des Liten den mansus ihres
Vaters vom Grundherrn erwerben müssen, und dass der Nachlass des Liten, wenn
er unbeweibt stirbt, vollständig, andernfalls zur Hälfte vom Schultheiss der Herr-
schaft eingezogen wird. Verslagen en Mededeelingen der Utrechter Vereinigung
zur Ausgabe der Bronnen van het oude vaderl. recht 1885 I 20.

§ 14. Die Stände.
lat35, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt
vor36. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz37; jüngere
Denkmäler sagen lazzi38 oder lassi39. Bei den Oberdeutschen und
bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch40. Letztere und
die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der
wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen
weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter
ist dunkel und streitig41.

Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung
durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle ge-
bunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben
zu leisten, besaſsen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Ver-
träge zu schlieſsen42, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit
aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen43.
Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn44. Sie
hatten das Fehderecht45 und ein Wergeld, welches mindestens zum
Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht
scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben46. Am strengsten
ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte

35 Im Sachsenspiegel und in den bei Waitz V 203 angeführten Stellen.
36 Hessels a. O. Lex Chamavorum c. 5, 44. 45. Waitz a. O. Anm 3.
37 Zu Lex Rib. 62, 1: LL V 277. Lazi in der Urk. Ludwigs des Deutschen
Wilmans, KU I 143.
38 Bei Nithard IV 2, Mon. Germ. SS II 668.
39 In der vita Lebuini MG SS II 361.
40 Der litus und die lesa des Pactus Alam. sind, weil auf fränkische Einflüsse
zurückführend, kein Gegenbeweis. S. unten § 41.
41 Lëtus erklärt Müllenhoff bei Waitz, Altes Recht S 288 als manens,
mansionarius, indem er ein verlorenes Verbum litan mit der Bedeutung manere
voraussetzt. Vgl. Brunner, Freil. durch Schatzwurf S 68 Anm 3. Aldio leitet
Grimm u. a. von altinôn, morari ab, Bluhme denkt LL IV 672 an Zusammen-
hang mit halten. Vielleicht liegt ein Kompositum von ahd. deo, teo, got. þius vor.
42 Lex Sal. 50.
43 Lex Fris. 11, 2.
44 Arg. Liu. 139; Lex Sax. c. 65. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax.
S 295 f. Anm.
45 Lex Fris. 2, 5. 8.
46 Für das fries. Recht folgert den Mangel des Erbrechts v. Amira, Erben-
folge S 143 aus dem Anspruch des Herrn auf die Erbenbuſse. Lex Chamav. c. 14
ist wohl auch auf den Liten zu beziehen. Noch das Hofrecht der Stiftsgüter von
Essen im Salland v. J. 1270 verfügt, daſs die Söhne des Liten den mansus ihres
Vaters vom Grundherrn erwerben müssen, und daſs der Nachlaſs des Liten, wenn
er unbeweibt stirbt, vollständig, andernfalls zur Hälfte vom Schultheiſs der Herr-
schaft eingezogen wird. Verslagen en Mededeelingen der Utrechter Vereinigung
zur Ausgabe der Bronnen van het oude vaderl. recht 1885 I 20.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0120" n="102"/><fw place="top" type="header">§ 14. Die Stände.</fw><lb/>
lat<note place="foot" n="35">Im Sachsenspiegel und in den bei <hi rendition="#g">Waitz</hi> V 203 angeführten Stellen.</note>, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt<lb/>
vor<note place="foot" n="36"><hi rendition="#g">Hessels</hi> a. O. Lex Chamavorum c. 5, 44. 45. <hi rendition="#g">Waitz</hi> a. O. Anm 3.</note>. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz<note place="foot" n="37">Zu Lex Rib. 62, 1: LL V 277. Lazi in der Urk. Ludwigs des Deutschen<lb/><hi rendition="#g">Wilmans</hi>, KU I 143.</note>; jüngere<lb/>
Denkmäler sagen lazzi<note place="foot" n="38">Bei Nithard IV 2, Mon. Germ. SS II 668.</note> oder lassi<note place="foot" n="39">In der vita Lebuini MG SS II 361.</note>. Bei den Oberdeutschen und<lb/>
bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch<note place="foot" n="40">Der litus und die lesa des Pactus Alam. sind, weil auf fränkische Einflüsse<lb/>
zurückführend, kein Gegenbeweis. S. unten § 41.</note>. Letztere und<lb/>
die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der<lb/>
wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen<lb/>
weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter<lb/>
ist dunkel und streitig<note place="foot" n="41">Lëtus erklärt <hi rendition="#g">Müllenhoff</hi> bei Waitz, Altes Recht S 288 als manens,<lb/>
mansionarius, indem er ein verlorenes Verbum litan mit der Bedeutung manere<lb/>
voraussetzt. Vgl. <hi rendition="#g">Brunner</hi>, Freil. durch Schatzwurf S 68 Anm 3. Aldio leitet<lb/><hi rendition="#g">Grimm</hi> u. a. von altinôn, morari ab, <hi rendition="#g">Bluhme</hi> denkt LL IV 672 an Zusammen-<lb/>
hang mit halten. Vielleicht liegt ein Kompositum von ahd. deo, teo, got. þius vor.</note>.</p><lb/>
          <p>Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung<lb/>
durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle ge-<lb/>
bunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben<lb/>
zu leisten, besa&#x017F;sen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Ver-<lb/>
träge zu schlie&#x017F;sen<note place="foot" n="42">Lex Sal. 50.</note>, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit<lb/>
aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen<note place="foot" n="43">Lex Fris. 11, 2.</note>.<lb/>
Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn<note place="foot" n="44">Arg. Liu. 139; Lex Sax. c. 65. Vgl. v. <hi rendition="#g">Richthofen</hi>, Zur Lex Sax.<lb/>
S 295 f. Anm.</note>. Sie<lb/>
hatten das Fehderecht<note place="foot" n="45">Lex Fris. 2, 5. 8.</note> und ein Wergeld, welches mindestens zum<lb/>
Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht<lb/>
scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben<note place="foot" n="46">Für das fries. Recht folgert den Mangel des Erbrechts v. <hi rendition="#g">Amira</hi>, Erben-<lb/>
folge S 143 aus dem Anspruch des Herrn auf die Erbenbu&#x017F;se. Lex Chamav. c. 14<lb/>
ist wohl auch auf den Liten zu beziehen. Noch das Hofrecht der Stiftsgüter von<lb/>
Essen im Salland v. J. 1270 verfügt, da&#x017F;s die Söhne des Liten den mansus ihres<lb/>
Vaters vom Grundherrn erwerben müssen, und da&#x017F;s der Nachla&#x017F;s des Liten, wenn<lb/>
er unbeweibt stirbt, vollständig, andernfalls zur Hälfte vom Schulthei&#x017F;s der Herr-<lb/>
schaft eingezogen wird. Verslagen en Mededeelingen der Utrechter Vereinigung<lb/>
zur Ausgabe der Bronnen van het oude vaderl. recht 1885 I 20.</note>. Am strengsten<lb/>
ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0120] § 14. Die Stände. lat 35, latinisiert litus, laetus, letus. Aber auch lidus, ledus kommt vor 36. Eine althochdeutsche Glosse bietet die Form laz 37; jüngere Denkmäler sagen lazzi 38 oder lassi 39. Bei den Oberdeutschen und bei den Langobarden war das Wort nicht heimisch 40. Letztere und die Baiern verwenden dafür den Ausdruck aldio, altio, aldius, der wieder den übrigen Stämmen fremd ist. Die Ostgermanen kennen weder den Liten noch den Aldio. Der Ursprung der beiden Wörter ist dunkel und streitig 41. Liten und Aldien bildeten einen erblichen Stand, dessen Stellung durch das Volksrecht geschützt war. Sie waren an die Scholle ge- bunden, hatten ihrem Herrn rechtlich fixierte Dienste und Abgaben zu leisten, besaſsen die Fähigkeit Vermögen zu erwerben und Ver- träge zu schlieſsen 42, konnten durch Freilassung in die volle Freiheit aufsteigen und sich aus ihrem Vermögen die Freiheit erkaufen 43. Zur Verehelichung bedurften sie der Einwilligung des Herrn 44. Sie hatten das Fehderecht 45 und ein Wergeld, welches mindestens zum Teil an den Herren fiel. Ein volksrechtlich anerkanntes Erbrecht scheinen sie ursprünglich nicht besessen zu haben 46. Am strengsten ist die Abhängigkeit der Halbfreien später im langobardischen Rechte 35 Im Sachsenspiegel und in den bei Waitz V 203 angeführten Stellen. 36 Hessels a. O. Lex Chamavorum c. 5, 44. 45. Waitz a. O. Anm 3. 37 Zu Lex Rib. 62, 1: LL V 277. Lazi in der Urk. Ludwigs des Deutschen Wilmans, KU I 143. 38 Bei Nithard IV 2, Mon. Germ. SS II 668. 39 In der vita Lebuini MG SS II 361. 40 Der litus und die lesa des Pactus Alam. sind, weil auf fränkische Einflüsse zurückführend, kein Gegenbeweis. S. unten § 41. 41 Lëtus erklärt Müllenhoff bei Waitz, Altes Recht S 288 als manens, mansionarius, indem er ein verlorenes Verbum litan mit der Bedeutung manere voraussetzt. Vgl. Brunner, Freil. durch Schatzwurf S 68 Anm 3. Aldio leitet Grimm u. a. von altinôn, morari ab, Bluhme denkt LL IV 672 an Zusammen- hang mit halten. Vielleicht liegt ein Kompositum von ahd. deo, teo, got. þius vor. 42 Lex Sal. 50. 43 Lex Fris. 11, 2. 44 Arg. Liu. 139; Lex Sax. c. 65. Vgl. v. Richthofen, Zur Lex Sax. S 295 f. Anm. 45 Lex Fris. 2, 5. 8. 46 Für das fries. Recht folgert den Mangel des Erbrechts v. Amira, Erben- folge S 143 aus dem Anspruch des Herrn auf die Erbenbuſse. Lex Chamav. c. 14 ist wohl auch auf den Liten zu beziehen. Noch das Hofrecht der Stiftsgüter von Essen im Salland v. J. 1270 verfügt, daſs die Söhne des Liten den mansus ihres Vaters vom Grundherrn erwerben müssen, und daſs der Nachlaſs des Liten, wenn er unbeweibt stirbt, vollständig, andernfalls zur Hälfte vom Schultheiſs der Herr- schaft eingezogen wird. Verslagen en Mededeelingen der Utrechter Vereinigung zur Ausgabe der Bronnen van het oude vaderl. recht 1885 I 20.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/120
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/120>, abgerufen am 24.11.2024.