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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

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vom Künstler selbst aufgestellten Forderungen Anwendung
zu erleiden scheinen. Sollte also Nikias etwa eine Theorie
aufgestellt haben, welche zu befolgen er selbst die Kraft
nicht in sich fühlte? Gewiss ist dies nicht glaublich: und so
dürfen wir wohl den Ausweg annehmen, den uns Philostra-
tus1) durch die Beschreibung eines Gemäldes der Befreiung
der Andromeda bietet, welches sich von den sonst bekannten
Darstellungen dieses Mythus auf sehr bemerkenswerthe Weise
unterscheidet. Das Meerungeheuer liegt getödtet am Ufer
und färbt mit seinem Blute die Wellen des Meeres. Eros,
als Jüngling gebildet, hat dem Perseus im Kampfe beigestan-
den, und noch aufgeregt davon ist er beschäftigt, die Bande
der Andromeda zu lösen, welche noch furchtsam, aber doch
zugleich schon erfreut erscheint. Perseus vom Kampfe er-
mattet und von Schweiss triefend, liegt im Grase, und wäh-
rend sein Blick auf der Jungfrau ruht, bringen ihm die
schwarzen äthiopischen Hirten erfreut ihre Huldigungen dar
und reichen ihm zur Stärkung Milch und Wein. Die Eigen-
thümlichkeit der Composition fiel schon Welcker auf; und sie
weicht allerdings nicht nur von den sonst bekannten Darstel-
lungen desselben Gegenstandes gänzlich ab, sondern unter-
scheidet sich ihrer ganzen Auffassung nach sogar von der
grösseren Masse aller uns erhaltenen Gemälde. Dagegen
entspricht sie vollkommen der Forderung des Nikias, dass
der Künstler Gegenstände wählen solle, welche eine reiche
Entfaltung mannigfacher dramatischer Motive begünstigen.
Dass Philostratus die Composition des Nikias beschreibe,
wird freilich durch kein äusseres Zeugniss bestätigt; legen
wir aber innern Gründen ein Gewicht bei, so kann kaum
noch ein Zweifel daran bei uns aufkommen. Denn auch ab-
gesehen von der Auffassung des Ganzen lässt sich die eigen-
thümliche Motivirung und Darstellung der einzelnen Figuren
nirgends besser erklären, als bei einem Künstler aus der
Schule des Euphranor; ja die realistische Richtung, welche
wir diesem Letztern beigelegt haben, tritt uns eigentlich erst
durch die Beschreibung des Philostratus in einem concreten
Beispiele vor Augen. Die geröthete Schulter des Perseus mit
ihren von der Anstrengung geschwollenen Adern, welche

1) I, 29.

vom Künstler selbst aufgestellten Forderungen Anwendung
zu erleiden scheinen. Sollte also Nikias etwa eine Theorie
aufgestellt haben, welche zu befolgen er selbst die Kraft
nicht in sich fühlte? Gewiss ist dies nicht glaublich: und so
dürfen wir wohl den Ausweg annehmen, den uns Philostra-
tus1) durch die Beschreibung eines Gemäldes der Befreiung
der Andromeda bietet, welches sich von den sonst bekannten
Darstellungen dieses Mythus auf sehr bemerkenswerthe Weise
unterscheidet. Das Meerungeheuer liegt getödtet am Ufer
und färbt mit seinem Blute die Wellen des Meeres. Eros,
als Jüngling gebildet, hat dem Perseus im Kampfe beigestan-
den, und noch aufgeregt davon ist er beschäftigt, die Bande
der Andromeda zu lösen, welche noch furchtsam, aber doch
zugleich schon erfreut erscheint. Perseus vom Kampfe er-
mattet und von Schweiss triefend, liegt im Grase, und wäh-
rend sein Blick auf der Jungfrau ruht, bringen ihm die
schwarzen äthiopischen Hirten erfreut ihre Huldigungen dar
und reichen ihm zur Stärkung Milch und Wein. Die Eigen-
thümlichkeit der Composition fiel schon Welcker auf; und sie
weicht allerdings nicht nur von den sonst bekannten Darstel-
lungen desselben Gegenstandes gänzlich ab, sondern unter-
scheidet sich ihrer ganzen Auffassung nach sogar von der
grösseren Masse aller uns erhaltenen Gemälde. Dagegen
entspricht sie vollkommen der Forderung des Nikias, dass
der Künstler Gegenstände wählen solle, welche eine reiche
Entfaltung mannigfacher dramatischer Motive begünstigen.
Dass Philostratus die Composition des Nikias beschreibe,
wird freilich durch kein äusseres Zeugniss bestätigt; legen
wir aber innern Gründen ein Gewicht bei, so kann kaum
noch ein Zweifel daran bei uns aufkommen. Denn auch ab-
gesehen von der Auffassung des Ganzen lässt sich die eigen-
thümliche Motivirung und Darstellung der einzelnen Figuren
nirgends besser erklären, als bei einem Künstler aus der
Schule des Euphranor; ja die realistische Richtung, welche
wir diesem Letztern beigelegt haben, tritt uns eigentlich erst
durch die Beschreibung des Philostratus in einem concreten
Beispiele vor Augen. Die geröthete Schulter des Perseus mit
ihren von der Anstrengung geschwollenen Adern, welche

1) I, 29.
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[199/0216] vom Künstler selbst aufgestellten Forderungen Anwendung zu erleiden scheinen. Sollte also Nikias etwa eine Theorie aufgestellt haben, welche zu befolgen er selbst die Kraft nicht in sich fühlte? Gewiss ist dies nicht glaublich: und so dürfen wir wohl den Ausweg annehmen, den uns Philostra- tus 1) durch die Beschreibung eines Gemäldes der Befreiung der Andromeda bietet, welches sich von den sonst bekannten Darstellungen dieses Mythus auf sehr bemerkenswerthe Weise unterscheidet. Das Meerungeheuer liegt getödtet am Ufer und färbt mit seinem Blute die Wellen des Meeres. Eros, als Jüngling gebildet, hat dem Perseus im Kampfe beigestan- den, und noch aufgeregt davon ist er beschäftigt, die Bande der Andromeda zu lösen, welche noch furchtsam, aber doch zugleich schon erfreut erscheint. Perseus vom Kampfe er- mattet und von Schweiss triefend, liegt im Grase, und wäh- rend sein Blick auf der Jungfrau ruht, bringen ihm die schwarzen äthiopischen Hirten erfreut ihre Huldigungen dar und reichen ihm zur Stärkung Milch und Wein. Die Eigen- thümlichkeit der Composition fiel schon Welcker auf; und sie weicht allerdings nicht nur von den sonst bekannten Darstel- lungen desselben Gegenstandes gänzlich ab, sondern unter- scheidet sich ihrer ganzen Auffassung nach sogar von der grösseren Masse aller uns erhaltenen Gemälde. Dagegen entspricht sie vollkommen der Forderung des Nikias, dass der Künstler Gegenstände wählen solle, welche eine reiche Entfaltung mannigfacher dramatischer Motive begünstigen. Dass Philostratus die Composition des Nikias beschreibe, wird freilich durch kein äusseres Zeugniss bestätigt; legen wir aber innern Gründen ein Gewicht bei, so kann kaum noch ein Zweifel daran bei uns aufkommen. Denn auch ab- gesehen von der Auffassung des Ganzen lässt sich die eigen- thümliche Motivirung und Darstellung der einzelnen Figuren nirgends besser erklären, als bei einem Künstler aus der Schule des Euphranor; ja die realistische Richtung, welche wir diesem Letztern beigelegt haben, tritt uns eigentlich erst durch die Beschreibung des Philostratus in einem concreten Beispiele vor Augen. Die geröthete Schulter des Perseus mit ihren von der Anstrengung geschwollenen Adern, welche 1) I, 29.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/216>, abgerufen am 27.11.2024.