der Darstellung jener Züge mit einem möglichst geringen Maasse körperlichen Ausdrucks begnügt, so ist es doch natürlich, dass der, wenn auch noch so tüchtige, aber nicht so fein organisirte Nachahmer gerade, was äusserlich, for- mell wahrnehmbar ist, ins Auge fassen wird. Indem er aber dabei die Bemerkung macht, dass mit der Stärke des wie- derzugebenden Affects sich auch der körperliche Ausdruck steigert, kann er leicht verleitet werden, das Verhältniss zwischen Ursache und Wirkung zu verkennen, und die Dar- stellung des Affects durch die Stärke seiner materiellen Aeusserung bedingt erachten. Und hiermit ist der Keim zu jener realistischen Anschauung und Auffassung gegeben, welche Grosses und Erhabenes nur körperlich gross und erhaben darstellen zu können meint.
Es würde gewiss lehrreich sein, wenn wir eingehender zu verfolgen vermöchten, wie sich diese Richtung in der Behandlung des Einzelnen offenbarte. Aber die wenigen vorhandenen Nachrichten genügten kaum, sie im allgemeinen mit Sicherheit nachzuweisen. Nur auf einen Punkt wollen wir noch einmal unsere Aufmerksamkeit zurücklenken, auf die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Proportionen. Der älteren von Polyklet begründeten Lehre lag das Be- streben zu Grunde, durch ihre quadraten Proportionen den eigentlichen Stamm des Körpers, als von welchem jede Kraft- entwickelung ausgeht, für eine solche auch besonders und nachdrücklich befähigt erscheinen zu lassen. Wenn dagegen Euphranor das Verhältniss umkehrte und den Körper schmäch- tiger, die äussern Glieder massiger bildete, so wird auch seine Absicht dabei die umgekehrte gewesen sein: er glaubte seinen Figuren den Ausdruck grösserer Kraft zu verleihen, indem er die Glieder als die Werkzeuge der Kraftäusserung in ihrer Bildung bevorzugte. Was also als ein Mangel ge- rügt wird, das erscheint seinem Ursprunge nach als eine Aeusserung der realistischen Grundrichtung des Künstlers, welche nur immer mehr bestätigt, wie auf diesem Wege sich die Aufmerksamkeit von den inneren Gründen der Dinge ab auf die Darstellung des sinnlich und äusserlich Wahrnehm- baren wandte. In diesem Sinne haben wir derjenigen Pe- riode in der Geschichte der Bildhauer, an deren Spitze für uns Euphranor steht, ein Streben nach äusserer Wahrheit zuge-
der Darstellung jener Züge mit einem möglichst geringen Maasse körperlichen Ausdrucks begnügt, so ist es doch natürlich, dass der, wenn auch noch so tüchtige, aber nicht so fein organisirte Nachahmer gerade, was äusserlich, for- mell wahrnehmbar ist, ins Auge fassen wird. Indem er aber dabei die Bemerkung macht, dass mit der Stärke des wie- derzugebenden Affects sich auch der körperliche Ausdruck steigert, kann er leicht verleitet werden, das Verhältniss zwischen Ursache und Wirkung zu verkennen, und die Dar- stellung des Affects durch die Stärke seiner materiellen Aeusserung bedingt erachten. Und hiermit ist der Keim zu jener realistischen Anschauung und Auffassung gegeben, welche Grosses und Erhabenes nur körperlich gross und erhaben darstellen zu können meint.
Es würde gewiss lehrreich sein, wenn wir eingehender zu verfolgen vermöchten, wie sich diese Richtung in der Behandlung des Einzelnen offenbarte. Aber die wenigen vorhandenen Nachrichten genügten kaum, sie im allgemeinen mit Sicherheit nachzuweisen. Nur auf einen Punkt wollen wir noch einmal unsere Aufmerksamkeit zurücklenken, auf die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Proportionen. Der älteren von Polyklet begründeten Lehre lag das Be- streben zu Grunde, durch ihre quadraten Proportionen den eigentlichen Stamm des Körpers, als von welchem jede Kraft- entwickelung ausgeht, für eine solche auch besonders und nachdrücklich befähigt erscheinen zu lassen. Wenn dagegen Euphranor das Verhältniss umkehrte und den Körper schmäch- tiger, die äussern Glieder massiger bildete, so wird auch seine Absicht dabei die umgekehrte gewesen sein: er glaubte seinen Figuren den Ausdruck grösserer Kraft zu verleihen, indem er die Glieder als die Werkzeuge der Kraftäusserung in ihrer Bildung bevorzugte. Was also als ein Mangel ge- rügt wird, das erscheint seinem Ursprunge nach als eine Aeusserung der realistischen Grundrichtung des Künstlers, welche nur immer mehr bestätigt, wie auf diesem Wege sich die Aufmerksamkeit von den inneren Gründen der Dinge ab auf die Darstellung des sinnlich und äusserlich Wahrnehm- baren wandte. In diesem Sinne haben wir derjenigen Pe- riode in der Geschichte der Bildhauer, an deren Spitze für uns Euphranor steht, ein Streben nach äusserer Wahrheit zuge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0209"n="192"/>
der Darstellung jener Züge mit einem möglichst geringen<lb/>
Maasse körperlichen Ausdrucks begnügt, so ist es doch<lb/>
natürlich, dass der, wenn auch noch so tüchtige, aber nicht<lb/>
so fein organisirte Nachahmer gerade, was äusserlich, for-<lb/>
mell wahrnehmbar ist, ins Auge fassen wird. Indem er aber<lb/>
dabei die Bemerkung macht, dass mit der Stärke des wie-<lb/>
derzugebenden Affects sich auch der körperliche Ausdruck<lb/>
steigert, kann er leicht verleitet werden, das Verhältniss<lb/>
zwischen Ursache und Wirkung zu verkennen, und die Dar-<lb/>
stellung des Affects durch die Stärke seiner materiellen<lb/>
Aeusserung bedingt erachten. Und hiermit ist der Keim<lb/>
zu jener realistischen Anschauung und Auffassung gegeben,<lb/>
welche Grosses und Erhabenes nur körperlich gross und<lb/>
erhaben darstellen zu können meint.</p><lb/><p>Es würde gewiss lehrreich sein, wenn wir eingehender<lb/>
zu verfolgen vermöchten, wie sich diese Richtung in der<lb/>
Behandlung des Einzelnen offenbarte. Aber die wenigen<lb/>
vorhandenen Nachrichten genügten kaum, sie im allgemeinen<lb/>
mit Sicherheit nachzuweisen. Nur auf einen Punkt wollen<lb/>
wir noch einmal unsere Aufmerksamkeit zurücklenken, auf<lb/>
die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Proportionen.<lb/>
Der älteren von Polyklet begründeten Lehre lag das Be-<lb/>
streben zu Grunde, durch ihre quadraten Proportionen den<lb/>
eigentlichen Stamm des Körpers, als von welchem jede Kraft-<lb/>
entwickelung ausgeht, für eine solche auch besonders und<lb/>
nachdrücklich befähigt erscheinen zu lassen. Wenn dagegen<lb/>
Euphranor das Verhältniss umkehrte und den Körper schmäch-<lb/>
tiger, die äussern Glieder massiger bildete, so wird auch<lb/>
seine Absicht dabei die umgekehrte gewesen sein: er glaubte<lb/>
seinen Figuren den Ausdruck grösserer Kraft zu verleihen,<lb/>
indem er die Glieder als die Werkzeuge der Kraftäusserung<lb/>
in ihrer Bildung bevorzugte. Was also als ein Mangel ge-<lb/>
rügt wird, das erscheint seinem Ursprunge nach als eine<lb/>
Aeusserung der realistischen Grundrichtung des Künstlers,<lb/>
welche nur immer mehr bestätigt, wie auf diesem Wege sich<lb/>
die Aufmerksamkeit von den inneren Gründen der Dinge ab<lb/>
auf die Darstellung des sinnlich und äusserlich Wahrnehm-<lb/>
baren wandte. In diesem Sinne haben wir derjenigen Pe-<lb/>
riode in der Geschichte der Bildhauer, an deren Spitze für uns<lb/>
Euphranor steht, ein Streben nach äusserer Wahrheit zuge-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[192/0209]
der Darstellung jener Züge mit einem möglichst geringen
Maasse körperlichen Ausdrucks begnügt, so ist es doch
natürlich, dass der, wenn auch noch so tüchtige, aber nicht
so fein organisirte Nachahmer gerade, was äusserlich, for-
mell wahrnehmbar ist, ins Auge fassen wird. Indem er aber
dabei die Bemerkung macht, dass mit der Stärke des wie-
derzugebenden Affects sich auch der körperliche Ausdruck
steigert, kann er leicht verleitet werden, das Verhältniss
zwischen Ursache und Wirkung zu verkennen, und die Dar-
stellung des Affects durch die Stärke seiner materiellen
Aeusserung bedingt erachten. Und hiermit ist der Keim
zu jener realistischen Anschauung und Auffassung gegeben,
welche Grosses und Erhabenes nur körperlich gross und
erhaben darstellen zu können meint.
Es würde gewiss lehrreich sein, wenn wir eingehender
zu verfolgen vermöchten, wie sich diese Richtung in der
Behandlung des Einzelnen offenbarte. Aber die wenigen
vorhandenen Nachrichten genügten kaum, sie im allgemeinen
mit Sicherheit nachzuweisen. Nur auf einen Punkt wollen
wir noch einmal unsere Aufmerksamkeit zurücklenken, auf
die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Proportionen.
Der älteren von Polyklet begründeten Lehre lag das Be-
streben zu Grunde, durch ihre quadraten Proportionen den
eigentlichen Stamm des Körpers, als von welchem jede Kraft-
entwickelung ausgeht, für eine solche auch besonders und
nachdrücklich befähigt erscheinen zu lassen. Wenn dagegen
Euphranor das Verhältniss umkehrte und den Körper schmäch-
tiger, die äussern Glieder massiger bildete, so wird auch
seine Absicht dabei die umgekehrte gewesen sein: er glaubte
seinen Figuren den Ausdruck grösserer Kraft zu verleihen,
indem er die Glieder als die Werkzeuge der Kraftäusserung
in ihrer Bildung bevorzugte. Was also als ein Mangel ge-
rügt wird, das erscheint seinem Ursprunge nach als eine
Aeusserung der realistischen Grundrichtung des Künstlers,
welche nur immer mehr bestätigt, wie auf diesem Wege sich
die Aufmerksamkeit von den inneren Gründen der Dinge ab
auf die Darstellung des sinnlich und äusserlich Wahrnehm-
baren wandte. In diesem Sinne haben wir derjenigen Pe-
riode in der Geschichte der Bildhauer, an deren Spitze für uns
Euphranor steht, ein Streben nach äusserer Wahrheit zuge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Der zweite Band der "Geschichte der griechischen … [mehr]
Der zweite Band der "Geschichte der griechischen Künstler" von Heinrich von Brunn enthält ebenfalls den "Zweiten Teil der ersten Abteilung", die im Deutschen Textarchiv als eigenständiges Werk verzeichnet ist.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/209>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.