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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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frommen, von den Orpheotelesten erzogenen Tugendhelden
seiner Zeit vorführt. Wir pflegen solche Gestalten Charak-
tere zu nennen, und haben dazu auch ein Recht, insofern sie
durch bestimmt ausgeprägte Eigenschaften kenntlich und von
andern unterschieden werden. Aber diese Eigenschaften sind
weniger individuell, als einer ganzen Gattung angehörig;
und wir müssen daher diese allgemeinen oder, so zu sagen,
Gattungscharaktere, in denen wir nach Lessings 1) Bemer-
kung "mehr die personificirte Idee eines Charakters, als eine
charakterisirte Person" erkennen, von den persönlichen Cha-
rakteren bestimmt scheiden, deren Eigenthümlichkeiten in
ihrer besonderen Vereinigung überhaupt nur einmal und nur
in einer einzigen Person gefunden werden. Da aber die hi-
storische Kunst im strengen Sinne ohne Darstellung von
Charakteren der letzteren Art durchaus nicht bestehen kann,
so sind wir hiermit wieder auf den Satz zurückgeführt, dass
Zeuxis zu den Vertretern derselben nicht gerechnet wer-
den darf.

Dennoch könnte es nach den bisherigen Erörterungen
immer noch scheinen, als sei das Hauptverdienst in den Wer-
ken des Zeuxis vorzugsweise in der geistigen Auffassung zu
suchen. Wir werden daher noch einige andere Werke ins
Auge fassen müssen, und zwar gerade solche, auf welche
der Künstler selbst seinen Stolz begründen zu dürfen glaubte.
Ich meine zunächst sein Bild der Helena. Wenn er, wie er-
zählt wird, aus den Jungfrauen einer ganzen Stadt fünf der
schönsten auswählte, um die Vorzüge einer jeden unter
ihnen in dem einen Bilde zu vereinigen, so konnte es unmög-
lich seine Absicht sein, auf diesem Wege die geistige Eigen-
thümlichkeit der Helena schildern zu wollen, sondern seine
Aufmerksamkeit musste um so mehr, als er sie unbekleidet
darstellte, von vorn herein auf das Aeussere, die Schönheit
der körperlichen Erscheinung gerichtet sein: ut excellentem
muliebris formae pulchritudinem muta in sese imago contine-
ret, wie Cicero sagt. Dadurch ist allerdings ein Streben
nach Idealität nicht ausgeschlossen: es verräth sich im Gegen-
theil darin, dass der Künstler aus mehreren Modellen ein
Musterbild zu entwerfen unternimmt (kak pollon meron sul-

1) Hamb. Dram. N. 95.

frommen, von den Orpheotelesten erzogenen Tugendhelden
seiner Zeit vorführt. Wir pflegen solche Gestalten Charak-
tere zu nennen, und haben dazu auch ein Recht, insofern sie
durch bestimmt ausgeprägte Eigenschaften kenntlich und von
andern unterschieden werden. Aber diese Eigenschaften sind
weniger individuell, als einer ganzen Gattung angehörig;
und wir müssen daher diese allgemeinen oder, so zu sagen,
Gattungscharaktere, in denen wir nach Lessings 1) Bemer-
kung „mehr die personificirte Idee eines Charakters, als eine
charakterisirte Person“ erkennen, von den persönlichen Cha-
rakteren bestimmt scheiden, deren Eigenthümlichkeiten in
ihrer besonderen Vereinigung überhaupt nur einmal und nur
in einer einzigen Person gefunden werden. Da aber die hi-
storische Kunst im strengen Sinne ohne Darstellung von
Charakteren der letzteren Art durchaus nicht bestehen kann,
so sind wir hiermit wieder auf den Satz zurückgeführt, dass
Zeuxis zu den Vertretern derselben nicht gerechnet wer-
den darf.

Dennoch könnte es nach den bisherigen Erörterungen
immer noch scheinen, als sei das Hauptverdienst in den Wer-
ken des Zeuxis vorzugsweise in der geistigen Auffassung zu
suchen. Wir werden daher noch einige andere Werke ins
Auge fassen müssen, und zwar gerade solche, auf welche
der Künstler selbst seinen Stolz begründen zu dürfen glaubte.
Ich meine zunächst sein Bild der Helena. Wenn er, wie er-
zählt wird, aus den Jungfrauen einer ganzen Stadt fünf der
schönsten auswählte, um die Vorzüge einer jeden unter
ihnen in dem einen Bilde zu vereinigen, so konnte es unmög-
lich seine Absicht sein, auf diesem Wege die geistige Eigen-
thümlichkeit der Helena schildern zu wollen, sondern seine
Aufmerksamkeit musste um so mehr, als er sie unbekleidet
darstellte, von vorn herein auf das Aeussere, die Schönheit
der körperlichen Erscheinung gerichtet sein: ut excellentem
muliebris formae pulchritudinem muta in sese imago contine-
ret, wie Cicero sagt. Dadurch ist allerdings ein Streben
nach Idealität nicht ausgeschlossen: es verräth sich im Gegen-
theil darin, dass der Künstler aus mehreren Modellen ein
Musterbild zu entwerfen unternimmt (κἀκ πολλῶν μεϱῶν συλ-

1) Hamb. Dram. N. 95.
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[88/0096] frommen, von den Orpheotelesten erzogenen Tugendhelden seiner Zeit vorführt. Wir pflegen solche Gestalten Charak- tere zu nennen, und haben dazu auch ein Recht, insofern sie durch bestimmt ausgeprägte Eigenschaften kenntlich und von andern unterschieden werden. Aber diese Eigenschaften sind weniger individuell, als einer ganzen Gattung angehörig; und wir müssen daher diese allgemeinen oder, so zu sagen, Gattungscharaktere, in denen wir nach Lessings 1) Bemer- kung „mehr die personificirte Idee eines Charakters, als eine charakterisirte Person“ erkennen, von den persönlichen Cha- rakteren bestimmt scheiden, deren Eigenthümlichkeiten in ihrer besonderen Vereinigung überhaupt nur einmal und nur in einer einzigen Person gefunden werden. Da aber die hi- storische Kunst im strengen Sinne ohne Darstellung von Charakteren der letzteren Art durchaus nicht bestehen kann, so sind wir hiermit wieder auf den Satz zurückgeführt, dass Zeuxis zu den Vertretern derselben nicht gerechnet wer- den darf. Dennoch könnte es nach den bisherigen Erörterungen immer noch scheinen, als sei das Hauptverdienst in den Wer- ken des Zeuxis vorzugsweise in der geistigen Auffassung zu suchen. Wir werden daher noch einige andere Werke ins Auge fassen müssen, und zwar gerade solche, auf welche der Künstler selbst seinen Stolz begründen zu dürfen glaubte. Ich meine zunächst sein Bild der Helena. Wenn er, wie er- zählt wird, aus den Jungfrauen einer ganzen Stadt fünf der schönsten auswählte, um die Vorzüge einer jeden unter ihnen in dem einen Bilde zu vereinigen, so konnte es unmög- lich seine Absicht sein, auf diesem Wege die geistige Eigen- thümlichkeit der Helena schildern zu wollen, sondern seine Aufmerksamkeit musste um so mehr, als er sie unbekleidet darstellte, von vorn herein auf das Aeussere, die Schönheit der körperlichen Erscheinung gerichtet sein: ut excellentem muliebris formae pulchritudinem muta in sese imago contine- ret, wie Cicero sagt. Dadurch ist allerdings ein Streben nach Idealität nicht ausgeschlossen: es verräth sich im Gegen- theil darin, dass der Künstler aus mehreren Modellen ein Musterbild zu entwerfen unternimmt (κἀκ πολλῶν μεϱῶν συλ- 1) Hamb. Dram. N. 95.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/96>, abgerufen am 24.11.2024.