In den bisherigen Erörterungen habe ich einige für das volle Verständniss der älteren Malerei wichtige Fragen ab- sichtlich unberührt gelassen, weil ihre Behandlung nur auf der Grundlage eines vollständigen Ueberblickes über die ein- zelnen Erscheinungen der behandelten Periode nutzbringend zu werden versprach. Ja, es wird zu diesem Zwecke sogar nothwendig sein, schon im voraus einige Blicke auf spätere Erscheinungen zu werfen. Sehen wir von den vereinzelten Nachrichten über die Anfänge und die erste Ausbildung der Malerei, welche gewissermassen nur die Einleitung zum ei- gentlichen Thema bilden, gänzlich ab, so ist es Polygnot und seine Genossenschaft, in denen sich das Wesen der äl- teren Malerei am klarsten und in gewaltigen Zügen spiegelt. Die Werke dieser Schule, wie ich der Kürze wegen diese Genossenschaft nennen will, gehören einer Kunstrichtung an, welche ich schon früher einmal als dem Epos in der Poesie entsprechend bezeichnen musste. Es sind grosse mytholo- gische und historische Compositionen, zum Schmucke von Tempeln und Hallen von vornherein bestimmt und ausge- führt, von einem Umfange und einem Reichthume an Figuren, wie wir ihn unter den berühmtesten Werken der späteren Zeit fast nie wiederfinden. Aber nicht einmal in der unmit- telbar sie aufnehmenden Generation findet diese Schule Nach- folge und Nachahmung. Die Künstler, welche der 90sten Olympiade näher stehen, als der 80sten, bewegen sich in einer durchaus verschiedenen Richtung. Plinius widmet der Schule des Polygnot zwar einige, aber doch verhältnissmäs- sig nur eine geringe Aufmerksamkeit; und was er bei Gele- genheit der auch uns weniger bekannten Namen aus der 90sten Olympiade bemerkt: dass sich bei ihnen seine Dar- legung nicht lange aufhalten dürfe, das scheint seine Her- zensmeinung auch über jene Schule. Denn darauf erst "eilt er zu den Lichtpunkten der Kunst," einem Apollodoros und Zeuxis. Apollodor war der erste, "welcher dem Pinsel zu gerechtem Ruhme verhalf," Zeuxis derjenige, "welcher den schon etwas wagenden Pinsel zu grossem Ruhme erhob." Apollodor malt einen betenden Priester, einen vom Blitze getroffenen Aiax; "und vor ihm wird kein Bild (tabula) eines
Rückblick.
In den bisherigen Erörterungen habe ich einige für das volle Verständniss der älteren Malerei wichtige Fragen ab- sichtlich unberührt gelassen, weil ihre Behandlung nur auf der Grundlage eines vollständigen Ueberblickes über die ein- zelnen Erscheinungen der behandelten Periode nutzbringend zu werden versprach. Ja, es wird zu diesem Zwecke sogar nothwendig sein, schon im voraus einige Blicke auf spätere Erscheinungen zu werfen. Sehen wir von den vereinzelten Nachrichten über die Anfänge und die erste Ausbildung der Malerei, welche gewissermassen nur die Einleitung zum ei- gentlichen Thema bilden, gänzlich ab, so ist es Polygnot und seine Genossenschaft, in denen sich das Wesen der äl- teren Malerei am klarsten und in gewaltigen Zügen spiegelt. Die Werke dieser Schule, wie ich der Kürze wegen diese Genossenschaft nennen will, gehören einer Kunstrichtung an, welche ich schon früher einmal als dem Epos in der Poesie entsprechend bezeichnen musste. Es sind grosse mytholo- gische und historische Compositionen, zum Schmucke von Tempeln und Hallen von vornherein bestimmt und ausge- führt, von einem Umfange und einem Reichthume an Figuren, wie wir ihn unter den berühmtesten Werken der späteren Zeit fast nie wiederfinden. Aber nicht einmal in der unmit- telbar sie aufnehmenden Generation findet diese Schule Nach- folge und Nachahmung. Die Künstler, welche der 90sten Olympiade näher stehen, als der 80sten, bewegen sich in einer durchaus verschiedenen Richtung. Plinius widmet der Schule des Polygnot zwar einige, aber doch verhältnissmäs- sig nur eine geringe Aufmerksamkeit; und was er bei Gele- genheit der auch uns weniger bekannten Namen aus der 90sten Olympiade bemerkt: dass sich bei ihnen seine Dar- legung nicht lange aufhalten dürfe, das scheint seine Her- zensmeinung auch über jene Schule. Denn darauf erst „eilt er zu den Lichtpunkten der Kunst,“ einem Apollodoros und Zeuxis. Apollodor war der erste, „welcher dem Pinsel zu gerechtem Ruhme verhalf,“ Zeuxis derjenige, „welcher den schon etwas wagenden Pinsel zu grossem Ruhme erhob.“ Apollodor malt einen betenden Priester, einen vom Blitze getroffenen Aiax; „und vor ihm wird kein Bild (tabula) eines
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Rückblick.
In den bisherigen Erörterungen habe ich einige für das
volle Verständniss der älteren Malerei wichtige Fragen ab-
sichtlich unberührt gelassen, weil ihre Behandlung nur auf
der Grundlage eines vollständigen Ueberblickes über die ein-
zelnen Erscheinungen der behandelten Periode nutzbringend
zu werden versprach. Ja, es wird zu diesem Zwecke sogar
nothwendig sein, schon im voraus einige Blicke auf spätere
Erscheinungen zu werfen. Sehen wir von den vereinzelten
Nachrichten über die Anfänge und die erste Ausbildung der
Malerei, welche gewissermassen nur die Einleitung zum ei-
gentlichen Thema bilden, gänzlich ab, so ist es Polygnot
und seine Genossenschaft, in denen sich das Wesen der äl-
teren Malerei am klarsten und in gewaltigen Zügen spiegelt.
Die Werke dieser Schule, wie ich der Kürze wegen diese
Genossenschaft nennen will, gehören einer Kunstrichtung an,
welche ich schon früher einmal als dem Epos in der Poesie
entsprechend bezeichnen musste. Es sind grosse mytholo-
gische und historische Compositionen, zum Schmucke von
Tempeln und Hallen von vornherein bestimmt und ausge-
führt, von einem Umfange und einem Reichthume an Figuren,
wie wir ihn unter den berühmtesten Werken der späteren
Zeit fast nie wiederfinden. Aber nicht einmal in der unmit-
telbar sie aufnehmenden Generation findet diese Schule Nach-
folge und Nachahmung. Die Künstler, welche der 90sten
Olympiade näher stehen, als der 80sten, bewegen sich in
einer durchaus verschiedenen Richtung. Plinius widmet der
Schule des Polygnot zwar einige, aber doch verhältnissmäs-
sig nur eine geringe Aufmerksamkeit; und was er bei Gele-
genheit der auch uns weniger bekannten Namen aus der
90sten Olympiade bemerkt: dass sich bei ihnen seine Dar-
legung nicht lange aufhalten dürfe, das scheint seine Her-
zensmeinung auch über jene Schule. Denn darauf erst „eilt
er zu den Lichtpunkten der Kunst,“ einem Apollodoros und
Zeuxis. Apollodor war der erste, „welcher dem Pinsel zu
gerechtem Ruhme verhalf,“ Zeuxis derjenige, „welcher den
schon etwas wagenden Pinsel zu grossem Ruhme erhob.“
Apollodor malt einen betenden Priester, einen vom Blitze
getroffenen Aiax; „und vor ihm wird kein Bild (tabula) eines
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/66>, abgerufen am 24.11.2024.
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