allerdings in ihrem Wesen den Göttern noch näher, als das gewöhnliche Geschlecht der Menschen; aber mindestens eben so grossen Antheil hat sie an dem Wesen der Letzte- ren. Eine Idealität in gleichem Sinne, wie den Göttern kann also den Heroen nicht zukommen. Wohl aber sind sie Ideale, insofern die besondere geistige Eigenthümlichkeit, welche das ganze Wesen einer Persönlichkeit bestimmt, in ihnen in ursprünglicher Reinheit ausgeprägt erscheint. Und dass sie Polygnot in dieser Weise aufgefasst hatte, das lehren nicht nur seine delphischen Gemälde, wie wir sie früher im Einzelnen betrachtet haben, sondern das bestätigt auch Aristoteles noch ausdrücklich, zwar nur durch ein ein- ziges Wort, dessen Bedeutung jedoch durch den Gegensatz, wie durch den ganzen Zusammenhang sehr scharf hervorge- hoben wird. Er nennt Polygnot ausgezeichnet als ethographos, während des Zeuxis Malerei kein ethos habe.1) Diesen Aus- spruch thut Aristoteles bei Gelegenheit der Definition der Tragödie und zur Erläuterung derselben. Wir werden dage- gen den umgekehrten Weg einschlagen und sein Urtheil über die Künstler aus unserer Kenntniss der Tragödie erklären müssen. Das Wesen derselben setzt er in die Darstellung der Handlung (praxis); diese aber solle auf dem ethos beru- hen, aus dem ethos hervorgehen. Doch sei letzteres nicht selbst Zweck: denn während ohne Handlung eine Tragödie überhaupt nicht denkbar sei, gäbe es dagegen in Wirklichkeit, namentlich unter den neueren, manche ohne Ethos. Ethos nun ist nach dem Sprachgebrauche des Aristoteles, der hier wegen der später modificirten Bedeutung allein als maassge- bend gelten darf, der unveränderliche, von den einzelnen Handlungen durchaus unabhängige Charakter der Personen, durch welchen vielmehr die Handlungsweise des Individuums überall erst bestimmt wird, ohne dass die jedesmalige einzel- ne Situation auf ihn selbst eine Rückwirkung zu äussern ver- möchte.2) Dieses Ethos ist natürlich, wie keineswegs immer vorhanden in der Tragödie, so auch keineswegs blos in ihr zu finden. Homer war, mit den beiden Haupthelden seiner Gedichte beginnend, in der Aufstellung ethischer Charaktere
1) Poet. 6: o men gar Polugnotos agathos ethographos, e de Zeuxidos graphe ouden ekhei ethos.
2) Poet. 6: ethe kath a poious tinas einai phamen tous prattontas oder: ethos to toiouton o deloi ten proairesin opoia tis.
allerdings in ihrem Wesen den Göttern noch näher, als das gewöhnliche Geschlecht der Menschen; aber mindestens eben so grossen Antheil hat sie an dem Wesen der Letzte- ren. Eine Idealität in gleichem Sinne, wie den Göttern kann also den Heroen nicht zukommen. Wohl aber sind sie Ideale, insofern die besondere geistige Eigenthümlichkeit, welche das ganze Wesen einer Persönlichkeit bestimmt, in ihnen in ursprünglicher Reinheit ausgeprägt erscheint. Und dass sie Polygnot in dieser Weise aufgefasst hatte, das lehren nicht nur seine delphischen Gemälde, wie wir sie früher im Einzelnen betrachtet haben, sondern das bestätigt auch Aristoteles noch ausdrücklich, zwar nur durch ein ein- ziges Wort, dessen Bedeutung jedoch durch den Gegensatz, wie durch den ganzen Zusammenhang sehr scharf hervorge- hoben wird. Er nennt Polygnot ausgezeichnet als ἠϑογϱάφος, während des Zeuxis Malerei kein ἦϑος habe.1) Diesen Aus- spruch thut Aristoteles bei Gelegenheit der Definition der Tragödie und zur Erläuterung derselben. Wir werden dage- gen den umgekehrten Weg einschlagen und sein Urtheil über die Künstler aus unserer Kenntniss der Tragödie erklären müssen. Das Wesen derselben setzt er in die Darstellung der Handlung (πϱᾶξις); diese aber solle auf dem ἦϑος beru- hen, aus dem ἦϑος hervorgehen. Doch sei letzteres nicht selbst Zweck: denn während ohne Handlung eine Tragödie überhaupt nicht denkbar sei, gäbe es dagegen in Wirklichkeit, namentlich unter den neueren, manche ohne Ethos. Ethos nun ist nach dem Sprachgebrauche des Aristoteles, der hier wegen der später modificirten Bedeutung allein als maassge- bend gelten darf, der unveränderliche, von den einzelnen Handlungen durchaus unabhängige Charakter der Personen, durch welchen vielmehr die Handlungsweise des Individuums überall erst bestimmt wird, ohne dass die jedesmalige einzel- ne Situation auf ihn selbst eine Rückwirkung zu äussern ver- möchte.2) Dieses Ethos ist natürlich, wie keineswegs immer vorhanden in der Tragödie, so auch keineswegs blos in ihr zu finden. Homer war, mit den beiden Haupthelden seiner Gedichte beginnend, in der Aufstellung ethischer Charaktere
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allerdings in ihrem Wesen den Göttern noch näher, als das
gewöhnliche Geschlecht der Menschen; aber mindestens
eben so grossen Antheil hat sie an dem Wesen der Letzte-
ren. Eine Idealität in gleichem Sinne, wie den Göttern kann
also den Heroen nicht zukommen. Wohl aber sind sie
Ideale, insofern die besondere geistige Eigenthümlichkeit,
welche das ganze Wesen einer Persönlichkeit bestimmt,
in ihnen in ursprünglicher Reinheit ausgeprägt erscheint.
Und dass sie Polygnot in dieser Weise aufgefasst hatte, das
lehren nicht nur seine delphischen Gemälde, wie wir sie
früher im Einzelnen betrachtet haben, sondern das bestätigt
auch Aristoteles noch ausdrücklich, zwar nur durch ein ein-
ziges Wort, dessen Bedeutung jedoch durch den Gegensatz,
wie durch den ganzen Zusammenhang sehr scharf hervorge-
hoben wird. Er nennt Polygnot ausgezeichnet als ἠϑογϱάφος,
während des Zeuxis Malerei kein ἦϑος habe. 1) Diesen Aus-
spruch thut Aristoteles bei Gelegenheit der Definition der
Tragödie und zur Erläuterung derselben. Wir werden dage-
gen den umgekehrten Weg einschlagen und sein Urtheil über
die Künstler aus unserer Kenntniss der Tragödie erklären
müssen. Das Wesen derselben setzt er in die Darstellung
der Handlung (πϱᾶξις); diese aber solle auf dem ἦϑος beru-
hen, aus dem ἦϑος hervorgehen. Doch sei letzteres nicht
selbst Zweck: denn während ohne Handlung eine Tragödie
überhaupt nicht denkbar sei, gäbe es dagegen in Wirklichkeit,
namentlich unter den neueren, manche ohne Ethos. Ethos
nun ist nach dem Sprachgebrauche des Aristoteles, der hier
wegen der später modificirten Bedeutung allein als maassge-
bend gelten darf, der unveränderliche, von den einzelnen
Handlungen durchaus unabhängige Charakter der Personen,
durch welchen vielmehr die Handlungsweise des Individuums
überall erst bestimmt wird, ohne dass die jedesmalige einzel-
ne Situation auf ihn selbst eine Rückwirkung zu äussern ver-
möchte. 2) Dieses Ethos ist natürlich, wie keineswegs immer
vorhanden in der Tragödie, so auch keineswegs blos in ihr
zu finden. Homer war, mit den beiden Haupthelden seiner
Gedichte beginnend, in der Aufstellung ethischer Charaktere
1) Poët. 6: ὁ μὲν γὰϱ Πολύγνωτος ἀγαϑὸς ἠϑογϱάφος, ἡ δὲ Ζεύξιδος
γϱαφὴ οὐδὲν ἔχει ἦϑος.
2) Poët. 6: ἢϑη καϑ̕ ἃ ποιούς τινας εἶναί φαμεν
τοὺς πϱάττοντας oder: ἦϑος τὸ τοιοῦτον ὃ δηλοῖ τὴν πϱοαίϱεσιν ὁποία τις.
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/51>, abgerufen am 23.07.2024.
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