trefflich verstanden und mit einander zu verbinden gewusst hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genom- men, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpft. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloss die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungs- kraft geht weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidigt uns die in der Kunst fortdauernde Unent- schlossenheit der Medea so wenig, dass wir vielmehr wün- schen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Ueber- legung die Wuth entkräften und den mütterlichen Empfin- dungen den Sieg versichern können. ... Ajax erschien nicht, wie er unter den Heerden wüthet, und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Mei- ster zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen Helden- thaten ermattet dasitzt, und den Anschlag fasst, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht, weil er eben jetzt raset, sondern weil man sieht, dass er ge- raset hat; weil man die Grösse seiner Raserei am lebhafte- sten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man sieht den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen." Wenn sonach die Leistungen des Timomachos als das Re- sultat der verschiedenen Bestrebungen erscheinen, welche sich um die Zeit Alexanders den Vorrang streitig machen, wo wäre da wohl in der Entwickelungsgeschichte der Kunst für ihn ein so geeigneter Platz, als in der Periode der Dia- dochen? Für diese Ansicht findet sich aber endlich noch eine schlagende Parallele in der Geschichte der Bildhauerei. Der Aias des Timomachos ist das vollkommene malerische Gegenstück zu dem plastischen Werke des Aristonidas: Athamas, wie er nach der Tödtung seines Sohnes Learchos reuig dasitzt (vgl. Th. 1, S. 465). Dieser Vergleich ist um so treffender, als wir nicht mit Unrecht die ganze Auffas- sung des Timomachos eine der plastischen sich annähernde nennen können; daher denn auch die in der Medea durchge-
trefflich verstanden und mit einander zu verbinden gewusst hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genom- men, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpft. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloss die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungs- kraft geht weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidigt uns die in der Kunst fortdauernde Unent- schlossenheit der Medea so wenig, dass wir vielmehr wün- schen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Ueber- legung die Wuth entkräften und den mütterlichen Empfin- dungen den Sieg versichern können. … Ajax erschien nicht, wie er unter den Heerden wüthet, und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Mei- ster zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen Helden- thaten ermattet dasitzt, und den Anschlag fasst, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht, weil er eben jetzt raset, sondern weil man sieht, dass er ge- raset hat; weil man die Grösse seiner Raserei am lebhafte- sten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man sieht den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.“ Wenn sonach die Leistungen des Timomachos als das Re- sultat der verschiedenen Bestrebungen erscheinen, welche sich um die Zeit Alexanders den Vorrang streitig machen, wo wäre da wohl in der Entwickelungsgeschichte der Kunst für ihn ein so geeigneter Platz, als in der Periode der Dia- dochen? Für diese Ansicht findet sich aber endlich noch eine schlagende Parallele in der Geschichte der Bildhauerei. Der Aias des Timomachos ist das vollkommene malerische Gegenstück zu dem plastischen Werke des Aristonidas: Athamas, wie er nach der Tödtung seines Sohnes Learchos reuig dasitzt (vgl. Th. 1, S. 465). Dieser Vergleich ist um so treffender, als wir nicht mit Unrecht die ganze Auffas- sung des Timomachos eine der plastischen sich annähernde nennen können; daher denn auch die in der Medea durchge-
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[283/0291]
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hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genom-
men, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern
einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch
mit der Eifersucht kämpft. Wir sehen das Ende dieses
Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloss
die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungs-
kraft geht weit über alles hinweg, was uns der Maler in
diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben
darum beleidigt uns die in der Kunst fortdauernde Unent-
schlossenheit der Medea so wenig, dass wir vielmehr wün-
schen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der
Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder
hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Ueber-
legung die Wuth entkräften und den mütterlichen Empfin-
dungen den Sieg versichern können. … Ajax erschien
nicht, wie er unter den Heerden wüthet, und Rinder und
Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Mei-
ster zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen Helden-
thaten ermattet dasitzt, und den Anschlag fasst, sich selbst
umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht,
weil er eben jetzt raset, sondern weil man sieht, dass er ge-
raset hat; weil man die Grösse seiner Raserei am lebhafte-
sten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er
nun selbst darüber empfindet. Man sieht den Sturm in den
Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.“
Wenn sonach die Leistungen des Timomachos als das Re-
sultat der verschiedenen Bestrebungen erscheinen, welche
sich um die Zeit Alexanders den Vorrang streitig machen,
wo wäre da wohl in der Entwickelungsgeschichte der Kunst
für ihn ein so geeigneter Platz, als in der Periode der Dia-
dochen? Für diese Ansicht findet sich aber endlich noch
eine schlagende Parallele in der Geschichte der Bildhauerei.
Der Aias des Timomachos ist das vollkommene malerische
Gegenstück zu dem plastischen Werke des Aristonidas:
Athamas, wie er nach der Tödtung seines Sohnes Learchos
reuig dasitzt (vgl. Th. 1, S. 465). Dieser Vergleich ist um
so treffender, als wir nicht mit Unrecht die ganze Auffas-
sung des Timomachos eine der plastischen sich annähernde
nennen können; daher denn auch die in der Medea durchge-
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/291>, abgerufen am 24.11.2024.
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