heit und Fortentwickelung. Dies ist der Grund, weshalb sich das Wesen der asiatischen Kunst nicht in so wenigen, bestimmten Sätzen abgegrenzt hinstellen lässt, wie das der sikyonischen und attischen Schule. Denn die Individualität der Einzelnen tritt theils in ihren eigenen Werken bestimmter in den Vordergrund, theils verfährt sie auch freier in dem, was sie von dem bereits vorhandenen Schatze künstlerischer Erfahrung sich aneignet. So ergänzt Apelles sein Talent durch den Besuch der sikyonischen Schule, während Pro- togenes ohne solche Hülfe mühsam durch eigene Anstren- gung und Kraft sich zur höchsten Vollendung erhebt. Wenn sich nun zwischen diesen beiden Künstlern in der ganzen Auffassung ihrer Aufgaben eine gewisse Gleichartigkeit zeigt, so dürfen wir doch wiederum die ihnen gemeinsamen Eigen- schaften keineswegs als das bezeichnen, wodurch ausschliess- lich das Wesen einer asiatischen Schule begründet würde. Denn um von Antiphilos, dem Feinde des Apelles, zu schwei- gen, den wir als geborenen Aegypter nicht nothwendig in Verbindung mit den Asiaten zu denken brauchen, so ist z. B. Theon von Samos ein Maler, dessen Eigenthümlichkeit von der jener Beiden weit abweicht. Wir vermögen daher unter der durch Plinius überlieferten Bezeichnung des genus Asiaticum oder Ionicum nur eine Reihe höchst bedeutender Leistungen zu verstehen, welche den durch die sikyonische und attische Schule nach einzelnen bestimmten Richtungen hin gewonnenen Entwickelungen zur Ergänzung dienen und dieselben zu demjenigen Abschlusse bringen, welcher nach dem Verhältnisse der damaligen Zustände des griechi- schen Geisteslebens überhaupt möglich war.
Denn nicht Alles vermag eine Zeit zu leisten; und auch der grösste Künstler, wie sehr er in vielen Beziehun- gen seiner Zeit voraneilen und sie lenken mag, steht doch in andern wieder unter dem Einflusse seiner Umgebungen. Wir dürfen uns daher nicht begnügen, die einzelnen Erschei- nungen der Kunst in ihrer Isolirung zu betrachten, sondern vermögen ein richtiges Verständniss ihrer Bedeutung erst von einem umfassenderen Blicke auf die übrigen Verhält- nisse des Lebens zu erwarten. Wir beginnen mit den äus- reren politischen Zuständen. Die Malerei erscheint von ihnen zwar weniger abhängig als die Bildhauerei, welche zu ihrem
heit und Fortentwickelung. Dies ist der Grund, weshalb sich das Wesen der asiatischen Kunst nicht in so wenigen, bestimmten Sätzen abgegrenzt hinstellen lässt, wie das der sikyonischen und attischen Schule. Denn die Individualität der Einzelnen tritt theils in ihren eigenen Werken bestimmter in den Vordergrund, theils verfährt sie auch freier in dem, was sie von dem bereits vorhandenen Schatze künstlerischer Erfahrung sich aneignet. So ergänzt Apelles sein Talent durch den Besuch der sikyonischen Schule, während Pro- togenes ohne solche Hülfe mühsam durch eigene Anstren- gung und Kraft sich zur höchsten Vollendung erhebt. Wenn sich nun zwischen diesen beiden Künstlern in der ganzen Auffassung ihrer Aufgaben eine gewisse Gleichartigkeit zeigt, so dürfen wir doch wiederum die ihnen gemeinsamen Eigen- schaften keineswegs als das bezeichnen, wodurch ausschliess- lich das Wesen einer asiatischen Schule begründet würde. Denn um von Antiphilos, dem Feinde des Apelles, zu schwei- gen, den wir als geborenen Aegypter nicht nothwendig in Verbindung mit den Asiaten zu denken brauchen, so ist z. B. Theon von Samos ein Maler, dessen Eigenthümlichkeit von der jener Beiden weit abweicht. Wir vermögen daher unter der durch Plinius überlieferten Bezeichnung des genus Asiaticum oder Ionicum nur eine Reihe höchst bedeutender Leistungen zu verstehen, welche den durch die sikyonische und attische Schule nach einzelnen bestimmten Richtungen hin gewonnenen Entwickelungen zur Ergänzung dienen und dieselben zu demjenigen Abschlusse bringen, welcher nach dem Verhältnisse der damaligen Zustände des griechi- schen Geisteslebens überhaupt möglich war.
Denn nicht Alles vermag eine Zeit zu leisten; und auch der grösste Künstler, wie sehr er in vielen Beziehun- gen seiner Zeit voraneilen und sie lenken mag, steht doch in andern wieder unter dem Einflusse seiner Umgebungen. Wir dürfen uns daher nicht begnügen, die einzelnen Erschei- nungen der Kunst in ihrer Isolirung zu betrachten, sondern vermögen ein richtiges Verständniss ihrer Bedeutung erst von einem umfassenderen Blicke auf die übrigen Verhält- nisse des Lebens zu erwarten. Wir beginnen mit den äus- reren politischen Zuständen. Die Malerei erscheint von ihnen zwar weniger abhängig als die Bildhauerei, welche zu ihrem
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heit und Fortentwickelung. Dies ist der Grund, weshalb
sich das Wesen der asiatischen Kunst nicht in so wenigen,
bestimmten Sätzen abgegrenzt hinstellen lässt, wie das der
sikyonischen und attischen Schule. Denn die Individualität
der Einzelnen tritt theils in ihren eigenen Werken bestimmter
in den Vordergrund, theils verfährt sie auch freier in dem,
was sie von dem bereits vorhandenen Schatze künstlerischer
Erfahrung sich aneignet. So ergänzt Apelles sein Talent
durch den Besuch der sikyonischen Schule, während Pro-
togenes ohne solche Hülfe mühsam durch eigene Anstren-
gung und Kraft sich zur höchsten Vollendung erhebt. Wenn
sich nun zwischen diesen beiden Künstlern in der ganzen
Auffassung ihrer Aufgaben eine gewisse Gleichartigkeit zeigt,
so dürfen wir doch wiederum die ihnen gemeinsamen Eigen-
schaften keineswegs als das bezeichnen, wodurch ausschliess-
lich das Wesen einer asiatischen Schule begründet würde.
Denn um von Antiphilos, dem Feinde des Apelles, zu schwei-
gen, den wir als geborenen Aegypter nicht nothwendig in
Verbindung mit den Asiaten zu denken brauchen, so ist
z. B. Theon von Samos ein Maler, dessen Eigenthümlichkeit
von der jener Beiden weit abweicht. Wir vermögen daher
unter der durch Plinius überlieferten Bezeichnung des genus
Asiaticum oder Ionicum nur eine Reihe höchst bedeutender
Leistungen zu verstehen, welche den durch die sikyonische
und attische Schule nach einzelnen bestimmten Richtungen
hin gewonnenen Entwickelungen zur Ergänzung dienen
und dieselben zu demjenigen Abschlusse bringen, welcher
nach dem Verhältnisse der damaligen Zustände des griechi-
schen Geisteslebens überhaupt möglich war.
Denn nicht Alles vermag eine Zeit zu leisten; und
auch der grösste Künstler, wie sehr er in vielen Beziehun-
gen seiner Zeit voraneilen und sie lenken mag, steht doch
in andern wieder unter dem Einflusse seiner Umgebungen.
Wir dürfen uns daher nicht begnügen, die einzelnen Erschei-
nungen der Kunst in ihrer Isolirung zu betrachten, sondern
vermögen ein richtiges Verständniss ihrer Bedeutung erst
von einem umfassenderen Blicke auf die übrigen Verhält-
nisse des Lebens zu erwarten. Wir beginnen mit den äus-
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/274>, abgerufen am 28.11.2024.
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