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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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Aufgabe des Bildes vollständig zu erfüllen. Aber der Künst-
ler enthüllte auch das Bild nicht, und zeigte es nicht der
versammelten Menge, ohne vorher einen Trompeter daneben
gestellt zu haben mit der Weisung, das Angriffssignal zu
blasen, durchdringend und so laut wie möglich, und wie
einen Wachtruf zur Schlacht. Wenn nun das Signal grell
und furchtbar erschallte, als ob zum schnellen Ausfalle der
Hopliten die Trompete ertönte, sah man auch das Bild und
erblickte den Soldaten, indem das Signal das Scheinbild des
Hervorstürmenden der Einbildungskraft noch weit näher
rückte." Ich habe in dem letzten Satze das Wort phantasia
durch Scheinbild wiedergegeben, insofern die Einbildungs-
kraft für etwas Wirkliches zu nehmen bereit ist, was doch
nur der Schein des Wirklichen ist. In der ganzen Erzäh-
lung aber haben wir einen vollständigen Commentar zu dem
Urtheil Quintilians. Jene Phantasien oder Visionen sind nicht
Darstellungen von reinen Phantasiegebilden ohne Realität,
sondern Darstellungen, welche zunächst und vorzugsweise
auf die Einbildungskraft des Beschauers wirken, und sie
durch das Plötzliche, das Ueberraschende und Schreckhafte
der ersten Erscheinung vergessen machen, dass es sich
nicht um die Wirklichkeit, sondern nur um eine Nachbildung
derselben handelt. Und in dieser Weise erklärt sie Quin-
tilian selbst an einer andern Stelle: 1) Quas phantasias Graeci
vocant, nos sane visiones appellemus, per quas imagines
rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere
oculis ac praesentes habere videamur. So mochte Theon in
dem Muttermorde des Orestes nicht nur durch den Mord
selbst, sondern durch das Heranstürmen der Furien, welche
den Orest mit Wahnsinn bedrohen, die Phantasie des Be-
schauers in die höchste Spannung versetzen; so mochte im
Thamyras die moralische und physische Vernichtung des
eben noch so hochmüthigen Sängers auch den Beschauer
mit zu ergreifen scheinen. -- Diese Angaben, so wenige
ihrer sind, reichen doch hin, um von ihnen ausgehend das
besondere Verdienst des Künstlers nicht nur an sich, son-
dern auch im Verhältniss zu der gleichzeitigen und folgenden
Entwickelung der Kunst in kurzen, aber scharfen Zügen

1) VI, 2, 29.

Aufgabe des Bildes vollständig zu erfüllen. Aber der Künst-
ler enthüllte auch das Bild nicht, und zeigte es nicht der
versammelten Menge, ohne vorher einen Trompeter daneben
gestellt zu haben mit der Weisung, das Angriffssignal zu
blasen, durchdringend und so laut wie möglich, und wie
einen Wachtruf zur Schlacht. Wenn nun das Signal grell
und furchtbar erschallte, als ob zum schnellen Ausfalle der
Hopliten die Trompete ertönte, sah man auch das Bild und
erblickte den Soldaten, indem das Signal das Scheinbild des
Hervorstürmenden der Einbildungskraft noch weit näher
rückte.“ Ich habe in dem letzten Satze das Wort φαντασία
durch Scheinbild wiedergegeben, insofern die Einbildungs-
kraft für etwas Wirkliches zu nehmen bereit ist, was doch
nur der Schein des Wirklichen ist. In der ganzen Erzäh-
lung aber haben wir einen vollständigen Commentar zu dem
Urtheil Quintilians. Jene Phantasien oder Visionen sind nicht
Darstellungen von reinen Phantasiegebilden ohne Realität,
sondern Darstellungen, welche zunächst und vorzugsweise
auf die Einbildungskraft des Beschauers wirken, und sie
durch das Plötzliche, das Ueberraschende und Schreckhafte
der ersten Erscheinung vergessen machen, dass es sich
nicht um die Wirklichkeit, sondern nur um eine Nachbildung
derselben handelt. Und in dieser Weise erklärt sie Quin-
tilian selbst an einer andern Stelle: 1) Quas φαντασίας Graeci
vocant, nos sane visiones appellemus, per quas imagines
rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere
oculis ac praesentes habere videamur. So mochte Theon in
dem Muttermorde des Orestes nicht nur durch den Mord
selbst, sondern durch das Heranstürmen der Furien, welche
den Orest mit Wahnsinn bedrohen, die Phantasie des Be-
schauers in die höchste Spannung versetzen; so mochte im
Thamyras die moralische und physische Vernichtung des
eben noch so hochmüthigen Sängers auch den Beschauer
mit zu ergreifen scheinen. — Diese Angaben, so wenige
ihrer sind, reichen doch hin, um von ihnen ausgehend das
besondere Verdienst des Künstlers nicht nur an sich, son-
dern auch im Verhältniss zu der gleichzeitigen und folgenden
Entwickelung der Kunst in kurzen, aber scharfen Zügen

1) VI, 2, 29.
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[253/0261] Aufgabe des Bildes vollständig zu erfüllen. Aber der Künst- ler enthüllte auch das Bild nicht, und zeigte es nicht der versammelten Menge, ohne vorher einen Trompeter daneben gestellt zu haben mit der Weisung, das Angriffssignal zu blasen, durchdringend und so laut wie möglich, und wie einen Wachtruf zur Schlacht. Wenn nun das Signal grell und furchtbar erschallte, als ob zum schnellen Ausfalle der Hopliten die Trompete ertönte, sah man auch das Bild und erblickte den Soldaten, indem das Signal das Scheinbild des Hervorstürmenden der Einbildungskraft noch weit näher rückte.“ Ich habe in dem letzten Satze das Wort φαντασία durch Scheinbild wiedergegeben, insofern die Einbildungs- kraft für etwas Wirkliches zu nehmen bereit ist, was doch nur der Schein des Wirklichen ist. In der ganzen Erzäh- lung aber haben wir einen vollständigen Commentar zu dem Urtheil Quintilians. Jene Phantasien oder Visionen sind nicht Darstellungen von reinen Phantasiegebilden ohne Realität, sondern Darstellungen, welche zunächst und vorzugsweise auf die Einbildungskraft des Beschauers wirken, und sie durch das Plötzliche, das Ueberraschende und Schreckhafte der ersten Erscheinung vergessen machen, dass es sich nicht um die Wirklichkeit, sondern nur um eine Nachbildung derselben handelt. Und in dieser Weise erklärt sie Quin- tilian selbst an einer andern Stelle: 1) Quas φαντασίας Graeci vocant, nos sane visiones appellemus, per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur. So mochte Theon in dem Muttermorde des Orestes nicht nur durch den Mord selbst, sondern durch das Heranstürmen der Furien, welche den Orest mit Wahnsinn bedrohen, die Phantasie des Be- schauers in die höchste Spannung versetzen; so mochte im Thamyras die moralische und physische Vernichtung des eben noch so hochmüthigen Sängers auch den Beschauer mit zu ergreifen scheinen. — Diese Angaben, so wenige ihrer sind, reichen doch hin, um von ihnen ausgehend das besondere Verdienst des Künstlers nicht nur an sich, son- dern auch im Verhältniss zu der gleichzeitigen und folgenden Entwickelung der Kunst in kurzen, aber scharfen Zügen 1) VI, 2, 29.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/261>, abgerufen am 27.11.2024.