stides als Maler der ethe und pathe kennen, und es ist also die Bedeutung dieser Ausdrücke möglichst genau festzusetzen, was darum nicht ganz leicht ist, weil theils nach den ver- schiedenen Verbindungen, in welchen sie gebraucht werden, theils auch in den verschiedenen Zeiten ihr Sinn vielfachen Modificationen unterworfen erscheint. Dies können wir schon daraus schliessen, dass es heisst, Aristides habe zuerst diese Art von Ausdruck gemalt, während bekanntlich Aristo- teles Polygnot den Maler des Ethos nennt, schon den Zeuxis aber als einen solchen nicht mehr anerkennen will. Das Ethos des Polygnot und die ethe des Aristides müssen also wesentlich verschiedene Dinge sein, und in dieser Ansicht kann uns die von Plinius versuchte Uebersetzung durch animus und sensus nur bestärken. Denn die früher ge- gebene Definition des Ethos, wie es bei Aristoteles in seinem Verhältniss zur praxis erscheint, als des unveränderlichen von der Handlung durchaus unabhängigen Charakters einer Person, ist mit jener Uebersetzung in keiner Weise verein- bar. Ebensowenig aber lässt sich die Stellung der pathe neben den ethe, nicht als deren Gegensatz mit der obigen Definition in Einklang bringen.
Zum richtigen Verständnisse des Urtheils über Aristides kann uns nun vor Allem eine längere Stelle in der Rhetorik des Dionys von Halikarnass 1) anleiten, in welcher davon gehandelt wird, wie sich namentlich der Redner der ethe be- dienen solle. Zwar spricht auch hier Dionys von jenem einen grössten Ethos, dem aus der Philosophie abgeleiteten, welches wie ein Grundgedanke der Rede zu Grunde liegen müsse (dei kan to logo en men ethos ekeino to megiston, to ek philosophias, osper logismon upokeisthai to logo). Aber diese Art des Ethos scheint sich mehr auf den Ernst und die Strenge der Auffassung im Allgemeinen zu beziehen, als auf einen bestimmten persönlichen Charakter. Es ist gewisser- massen der Grundton, durch welchen alle übrigen Töne erst in ein bestimmtes Verhältniss zu einander treten. Diese an- dern Töne nun, die ethe, sollen in ihrer Beziehung zu jenem Grundton, so wie auch unter einander gemischt je nach Be- dürfniss herangezogen und in die Darstellung des Thatsäch-
1) p. 60 Sylb.
stides als Maler der ἤϑη und πάϑη kennen, und es ist also die Bedeutung dieser Ausdrücke möglichst genau festzusetzen, was darum nicht ganz leicht ist, weil theils nach den ver- schiedenen Verbindungen, in welchen sie gebraucht werden, theils auch in den verschiedenen Zeiten ihr Sinn vielfachen Modificationen unterworfen erscheint. Dies können wir schon daraus schliessen, dass es heisst, Aristides habe zuerst diese Art von Ausdruck gemalt, während bekanntlich Aristo- teles Polygnot den Maler des Ethos nennt, schon den Zeuxis aber als einen solchen nicht mehr anerkennen will. Das Ethos des Polygnot und die ἤϑη des Aristides müssen also wesentlich verschiedene Dinge sein, und in dieser Ansicht kann uns die von Plinius versuchte Uebersetzung durch animus und sensus nur bestärken. Denn die früher ge- gebene Definition des Ethos, wie es bei Aristoteles in seinem Verhältniss zur πϱᾶξις erscheint, als des unveränderlichen von der Handlung durchaus unabhängigen Charakters einer Person, ist mit jener Uebersetzung in keiner Weise verein- bar. Ebensowenig aber lässt sich die Stellung der πάϑη neben den ἤϑη, nicht als deren Gegensatz mit der obigen Definition in Einklang bringen.
Zum richtigen Verständnisse des Urtheils über Aristides kann uns nun vor Allem eine längere Stelle in der Rhetorik des Dionys von Halikarnass 1) anleiten, in welcher davon gehandelt wird, wie sich namentlich der Redner der ἤϑη be- dienen solle. Zwar spricht auch hier Dionys von jenem einen grössten Ethos, dem aus der Philosophie abgeleiteten, welches wie ein Grundgedanke der Rede zu Grunde liegen müsse (δεῖ κἀν τῷ λόγῳ ἓν μὲν ἦϑος ἐκεῖνο τὸ μέγιστον, τὸ ἐκ φιλοσοφίας, ὥσπεϱ λογισμὸν ὑποκεῖσϑαι τῷ λόγῳ). Aber diese Art des Ethos scheint sich mehr auf den Ernst und die Strenge der Auffassung im Allgemeinen zu beziehen, als auf einen bestimmten persönlichen Charakter. Es ist gewisser- massen der Grundton, durch welchen alle übrigen Töne erst in ein bestimmtes Verhältniss zu einander treten. Diese an- dern Töne nun, die ἤϑη, sollen in ihrer Beziehung zu jenem Grundton, so wie auch unter einander gemischt je nach Be- dürfniss herangezogen und in die Darstellung des Thatsäch-
1) p. 60 Sylb.
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stides als Maler der ἤϑη und πάϑη kennen, und es ist also
die Bedeutung dieser Ausdrücke möglichst genau festzusetzen,
was darum nicht ganz leicht ist, weil theils nach den ver-
schiedenen Verbindungen, in welchen sie gebraucht werden,
theils auch in den verschiedenen Zeiten ihr Sinn vielfachen
Modificationen unterworfen erscheint. Dies können wir schon
daraus schliessen, dass es heisst, Aristides habe zuerst
diese Art von Ausdruck gemalt, während bekanntlich Aristo-
teles Polygnot den Maler des Ethos nennt, schon den Zeuxis
aber als einen solchen nicht mehr anerkennen will. Das
Ethos des Polygnot und die ἤϑη des Aristides müssen also
wesentlich verschiedene Dinge sein, und in dieser Ansicht
kann uns die von Plinius versuchte Uebersetzung durch
animus und sensus nur bestärken. Denn die früher ge-
gebene Definition des Ethos, wie es bei Aristoteles in seinem
Verhältniss zur πϱᾶξις erscheint, als des unveränderlichen
von der Handlung durchaus unabhängigen Charakters einer
Person, ist mit jener Uebersetzung in keiner Weise verein-
bar. Ebensowenig aber lässt sich die Stellung der πάϑη
neben den ἤϑη, nicht als deren Gegensatz mit der obigen
Definition in Einklang bringen.
Zum richtigen Verständnisse des Urtheils über Aristides
kann uns nun vor Allem eine längere Stelle in der Rhetorik
des Dionys von Halikarnass 1) anleiten, in welcher davon
gehandelt wird, wie sich namentlich der Redner der ἤϑη be-
dienen solle. Zwar spricht auch hier Dionys von jenem
einen grössten Ethos, dem aus der Philosophie abgeleiteten,
welches wie ein Grundgedanke der Rede zu Grunde liegen
müsse (δεῖ κἀν τῷ λόγῳ ἓν μὲν ἦϑος ἐκεῖνο τὸ μέγιστον, τὸ ἐκ
φιλοσοφίας, ὥσπεϱ λογισμὸν ὑποκεῖσϑαι τῷ λόγῳ). Aber diese
Art des Ethos scheint sich mehr auf den Ernst und die
Strenge der Auffassung im Allgemeinen zu beziehen, als auf
einen bestimmten persönlichen Charakter. Es ist gewisser-
massen der Grundton, durch welchen alle übrigen Töne erst
in ein bestimmtes Verhältniss zu einander treten. Diese an-
dern Töne nun, die ἤϑη, sollen in ihrer Beziehung zu jenem
Grundton, so wie auch unter einander gemischt je nach Be-
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/183>, abgerufen am 24.11.2024.
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