von seinem erheuchelten Wahnsinn, so ist eine vollständige Lösung dieser Aufgabe dadurch bedingt, dass der Künstler in der Hauptfigur unter der angenommenen Maske des Wahn- sinns nicht nur den ursprünglichen Charakter der Verschla- genheit, sondern noch besonders den Kampf zwischen kalt berechnender Klugheit und väterlicher Liebe erkennen liess, in welchen den Odysseus die List des Palamedes verstrickt hatte. In dem Urtheile über die Waffen des Achilleus er- scheint Odysseus zwar selbst als eine der handelnden Haupt- personen, für das Kunstwerk aber noch bedeutsamer als feiner Beobachter des Aias, aus dessen Wuth bereits die Symptome der späteren Raserei hervorleuchten mussten. Wie- der eine andere ist seine Rolle bei der Heilung des Telephos; und vielleicht dürfen wir ihn nochmals in dem Bilde des Philoktet voraussetzen. Auf jeden Fall verdient Letzteres wegen des Helden selbst Berücksichtigung: der ausgezehrte Körper, das verwilderte und verbrannte Haar, das starre thränenvolle Auge machen ihn zu einem Bilde des tiefsten Körper- und Seelenschmerzes. Unwillkürlich werden wir, wenn wir diese Schilderung der beiden Epigramme auf die durchaus verwandte Aufgabe im Bilde des Telephos an- wenden, an den berüchtigten Bettler-König des Euripides erinnert, welchem man zum Vorwurfe machte, dass der Dichter den Heros, den König der psychologischen Schilde- rung menschlichen Elends geopfert habe. Wäre der Pro- metheus als wirklich einst vorhanden besser beglaubigt, so würden wir auch dieses Werk als ein drittes Schmerzensbild anführen müssen: doch dürfen wir jetzt wenigstens sagen, dass die Aufgabe dem Geiste des Künstlers überhaupt ent- sprach. Wenn nun die zuletzt angeführten Darstellungen etwa zu der Annahme verleiten könnten, dass für den Künstler bei ihrer Wahl das Interesse an dem tragisch er- greifenden Gehalte bestimmend gewesen sei, so trägt da- gegen z. B. das Bild der zwei Knaben durchaus den Cha- rakter der Naivetät; und doch schliesst es sich den bisher betrachteten Werken vollkommen an. Denn indem der Künst- ler den Ausdruck knabenhafter Dreistigkeit und Einfalt dar- zustellen unternimmt, führt er uns wieder Zustände und Stim- mungen vor Augen, wie sie dem Knabenalter nicht eigentlich als fester Charakter, sondern gewissermassen als vorüber-
von seinem erheuchelten Wahnsinn, so ist eine vollständige Lösung dieser Aufgabe dadurch bedingt, dass der Künstler in der Hauptfigur unter der angenommenen Maske des Wahn- sinns nicht nur den ursprünglichen Charakter der Verschla- genheit, sondern noch besonders den Kampf zwischen kalt berechnender Klugheit und väterlicher Liebe erkennen liess, in welchen den Odysseus die List des Palamedes verstrickt hatte. In dem Urtheile über die Waffen des Achilleus er- scheint Odysseus zwar selbst als eine der handelnden Haupt- personen, für das Kunstwerk aber noch bedeutsamer als feiner Beobachter des Aias, aus dessen Wuth bereits die Symptome der späteren Raserei hervorleuchten mussten. Wie- der eine andere ist seine Rolle bei der Heilung des Telephos; und vielleicht dürfen wir ihn nochmals in dem Bilde des Philoktet voraussetzen. Auf jeden Fall verdient Letzteres wegen des Helden selbst Berücksichtigung: der ausgezehrte Körper, das verwilderte und verbrannte Haar, das starre thränenvolle Auge machen ihn zu einem Bilde des tiefsten Körper- und Seelenschmerzes. Unwillkürlich werden wir, wenn wir diese Schilderung der beiden Epigramme auf die durchaus verwandte Aufgabe im Bilde des Telephos an- wenden, an den berüchtigten Bettler-König des Euripides erinnert, welchem man zum Vorwurfe machte, dass der Dichter den Heros, den König der psychologischen Schilde- rung menschlichen Elends geopfert habe. Wäre der Pro- metheus als wirklich einst vorhanden besser beglaubigt, so würden wir auch dieses Werk als ein drittes Schmerzensbild anführen müssen: doch dürfen wir jetzt wenigstens sagen, dass die Aufgabe dem Geiste des Künstlers überhaupt ent- sprach. Wenn nun die zuletzt angeführten Darstellungen etwa zu der Annahme verleiten könnten, dass für den Künstler bei ihrer Wahl das Interesse an dem tragisch er- greifenden Gehalte bestimmend gewesen sei, so trägt da- gegen z. B. das Bild der zwei Knaben durchaus den Cha- rakter der Naivetät; und doch schliesst es sich den bisher betrachteten Werken vollkommen an. Denn indem der Künst- ler den Ausdruck knabenhafter Dreistigkeit und Einfalt dar- zustellen unternimmt, führt er uns wieder Zustände und Stim- mungen vor Augen, wie sie dem Knabenalter nicht eigentlich als fester Charakter, sondern gewissermassen als vorüber-
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[112/0120]
von seinem erheuchelten Wahnsinn, so ist eine vollständige
Lösung dieser Aufgabe dadurch bedingt, dass der Künstler
in der Hauptfigur unter der angenommenen Maske des Wahn-
sinns nicht nur den ursprünglichen Charakter der Verschla-
genheit, sondern noch besonders den Kampf zwischen kalt
berechnender Klugheit und väterlicher Liebe erkennen liess,
in welchen den Odysseus die List des Palamedes verstrickt
hatte. In dem Urtheile über die Waffen des Achilleus er-
scheint Odysseus zwar selbst als eine der handelnden Haupt-
personen, für das Kunstwerk aber noch bedeutsamer als
feiner Beobachter des Aias, aus dessen Wuth bereits die
Symptome der späteren Raserei hervorleuchten mussten. Wie-
der eine andere ist seine Rolle bei der Heilung des Telephos;
und vielleicht dürfen wir ihn nochmals in dem Bilde des
Philoktet voraussetzen. Auf jeden Fall verdient Letzteres
wegen des Helden selbst Berücksichtigung: der ausgezehrte
Körper, das verwilderte und verbrannte Haar, das starre
thränenvolle Auge machen ihn zu einem Bilde des tiefsten
Körper- und Seelenschmerzes. Unwillkürlich werden wir,
wenn wir diese Schilderung der beiden Epigramme auf die
durchaus verwandte Aufgabe im Bilde des Telephos an-
wenden, an den berüchtigten Bettler-König des Euripides
erinnert, welchem man zum Vorwurfe machte, dass der
Dichter den Heros, den König der psychologischen Schilde-
rung menschlichen Elends geopfert habe. Wäre der Pro-
metheus als wirklich einst vorhanden besser beglaubigt, so
würden wir auch dieses Werk als ein drittes Schmerzensbild
anführen müssen: doch dürfen wir jetzt wenigstens sagen,
dass die Aufgabe dem Geiste des Künstlers überhaupt ent-
sprach. Wenn nun die zuletzt angeführten Darstellungen
etwa zu der Annahme verleiten könnten, dass für den
Künstler bei ihrer Wahl das Interesse an dem tragisch er-
greifenden Gehalte bestimmend gewesen sei, so trägt da-
gegen z. B. das Bild der zwei Knaben durchaus den Cha-
rakter der Naivetät; und doch schliesst es sich den bisher
betrachteten Werken vollkommen an. Denn indem der Künst-
ler den Ausdruck knabenhafter Dreistigkeit und Einfalt dar-
zustellen unternimmt, führt er uns wieder Zustände und Stim-
mungen vor Augen, wie sie dem Knabenalter nicht eigentlich
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/120>, abgerufen am 23.11.2024.
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